Filmvermittlung und Filmpädagogik

»L’argent des grands«, oder:
Wie in der Schule über Film gesprochen werden könnte

L’argent des grands von Anne Huet gehört zum Bonus-Material der DVD zum Film Mes petites amoureuses von Jean Eustache, herausgebracht über Eden Cinéma, jener von Alain Bergala geleiteten Reihe, die Filme für das französische Unterrichtswesen aufbereitet. Mehrere Elemente machen diese Analyse zur Blaupause für eine Unterrichtsstunde im imaginären Schulfach Film:

1. Ein Thema

Die Modell-Stunde hat ein klar umrissenes Thema: Es geht um das allgegenwärtige Zahlungsmittel und darum, wie die, die es nicht besitzen dürfen, nämlich die Nicht-Erwachsenen, damit umgehen. [1] Das Verhältnis zu diesem Nicht-besitzen-Dürfen ist nicht nur Gegenstand alltäglicher Erfahrungen für Kinder, es liefert eben auch reichlich Stoff für fiktionales Erzählen.

[1]Ein Beispiel dafür, wie Erwachsene mit Geld umgehen, findet sich hier.

2. Mise en rapport

Der Wunsch, zu zeigen, auf welch unterschiedliche Weisen die Protagonisten des Dreiecksverhältnisses Geld – Erwachsene – Kinder filmisch zur Darstellung kommen können, prägt die Auswahl der Filmausschnitte. Das Kriterium der Vielfalt bestimmt auch mit, inwieweit sich die Ausschnitte miteinander in Bezug setzen lassen. Man könnte dieses In-Bezug-Setzen (frz.: mise-en-rapport) von Ausschnitten aus verschiedenen Filmen, die im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu betrachten, zu beschreiben und zu deuten eingeladen wird, als das Herzstück einer französischen Filmpädagogik bezeichnen. Dass sich nur Ausschnitte für eine systematische Auseinandersetzung mit Film im Unterricht eignen, versteht sich angesichts der bekannten zeitökonomischen Beschränkungen von selbst: Wer möchte, dass Film regelmäßig Gegenstand pädagogischer Vermittlung wird, also über den einmal im Jahr stattfindenden Kinoausflug hinaus Eingang findet in die 45-Minutentaktung des schulischen Alltags, muss von Teilstücken ausgehen.

Damit stellt sich automatisch die Frage nach dem richtigen Umgang: Welche Ausschnitte wie einsetzen? Die mise-en-rapport, dieses konzeptionell strukturierte Verknüpfen einzelner Szenen aus verschiedenen Filmen, steht hier in einem engen Zusammenhang mit der Begrifflichkeit der mise-en-scène, einer für die spezifisch französische Cinéphilie, Filmkritik und -theorie zentralen Kategorie. These: Die mise-en-rapport versucht, die Fragestellungen der mise-en-scène in den Bereich der Film-Pädagogik zu verlängern. Wie verfährt einer beim Filmemachen und was lässt sich aus den angewandten Verfahren ableiten über offene und verborgene Kommunikationsabsichten? So wie die Kritiker der Nouvelle Vague-Generation mit ihren Texten, in denen wiedererkennbare Handschriften von Autoren-Regisseuren aufgespürt und Film als Kunst durchgesetzt wurde, einen neuen Diskurs, eine neue Schule des Sehens begründeten, so soll das Kino knapp vierzig Jahre später auch im Bildungssektor fest verankert werden. Exemplarisch führt Anne Huet vor, worauf es bei der mise-en-rapport ankommt: auf eine präzise thematische Eingrenzung, auf eine sorgfältige Auswahl der Ausschnitte, sowie auf eine Zielgruppen-orientierte Sprache ohne Abstriche am analytischen Gehalt.

3. Auswahl der Ausschnitte

Gleich zu Anfang des knapp halbstündigen filmischen Diskussionsangebots bekommt der Zuschauer Ausschnitte aus vier Filmen zu sehen:

  • Les 400 coups
  • L’Argent
  • Mes petites amoureuses
  • L’Esquive

Die Auswahl umfasst eine Zeitspanne von fast 50 Jahren französischen Filmschaffens. Alle vier Filme erzählen – auf unterschiedliche Altersgruppen bezogene – Adoleszenzgeschichten und wenden sich trotzdem keineswegs speziell an ein jugendliches Publikum.

4. Behandlung der Ausschnitte

Die Ausschnitte sind hintereinander und ohne weiteren Eingriff zu sehen, in der gesamten ersten Hälfte der Filmanalyse sogar ganz ohne begleitenden Kommentar. Im Vordergrund steht das Kino, der Film, die Szene. Kraft der technischen Möglichkeiten einer DVD steht außerdem jede Szene zur wiederholten Sichtung jederzeit zur Verfügung – und darauf weisen sowohl das Menü der DVD als auch ein begleitendes Booklet explizit hin.

Die eigentliche Analyse-Arbeit findet in der zweiten Hälfte von L’Argent des grands statt. Sie artikuliert sich in einer Unterhaltung zwischen einer erwachsenen Frau und zwei Kindern (Junge und Mädchen). Dieser Dialog liegt ausschließlich im Off, d.h. auf den besprochenen Filmbildern und -tönen. Die Bilder werden später, im Zusammenhang mit diversen Sub-Themen, in verkürzter Form nochmals gezeigt. Auf diese Weise sehen wir jede der untersuchten Szenen in kurzer Zeit mehrmals – wiederholte Anschauung einzelner Sequenzen bestätigt sich als ein didaktisch effizientes Verfahren der filmischen Filmanalyse.

Andere Eingriffe in das Ausgangsmaterial bleiben aus: Die Filmbilder werden nicht verlangsamt oder eingefroren und auch nicht innerhalb eines split screens miteinander verglichen: Wir bleiben in jeder Hinsicht im Modus der ursprünglichen Vorführsituation, sogar auf der Tonebene: Weil der Off-Kommentar so sparsam eingesetzt wird, ist auch im analytischen Teil von L’Argent des grands immer noch viel Platz für die Originaldialoge.

5. Fragen

Nachdem die Ausschnitte in Gänze und unkommentiert zu sehen waren und wir die betreffenden Filmtitel genannt bekommen haben, gliedert sich die Unterrichtsstunde, von der dieser Film ein Protokoll wäre, in sieben Fragen auf:

  1. Was lässt sich anhand der Ausschnitte über die verschiedenen Drehorte sagen?
  2. Der Vergleich auf allgemeinster Grundlage: Was sind die Gemeinsamkeiten, welches die Unterschiede zwischen den vier Szenen?
  3. Wie stellt sich der Zusammenhang zwischen Geldbesitz und Sprechhoheit in den jeweiligen Ausschnitten dar?
  4. Wie kommt das Geld (und einige andere konkrete Objekte) zur bildlichen Darstellung?
  5. Wie unterschiedlich sind die Beziehungen, die Kinder und Erwachsene in den gezeigten Filmen führen?
  6. Wie ermittelt und beurteilt der Blick (die Kamera) die sozialen Differenzen zwischen arm und reich?
  7. Inwiefern weisen die Szenen verschiedene Rhythmiken auf und was bedeuten diese Unterschiede?

Vier Szenen, dazu dann sieben Fragen in 45 Minuten – ein durchaus zu bewältigendes, in diesem Sinne realitätsnahes Programm für eine Schulstunde.

6. Die neue Lehrerin

Die Stimme einer erwachsenen Frau gibt eine einfache Spielregel vor: Erst wird geschaut, danach gesprochen. Die Frau agiert verbal wie eine moderne Lehrerin: Sie stellt keine Fragen, die einfach nur eingepauktes Wissen abprüfen, sondern solche, die Blick und Denken der Schüler auf bestimmte Aspekte lenken wollen und den Kindern dabei Raum für eigene Beobachtungen und Formulierungen lassen. Sie leugnet ihre Autorität nicht, stellt sie aber in den Dienst von Persönlichkeits- und Geschmacksbildung ihrer Schüler: Behutsam und auch nur ganz vereinzelt platziert sie orientierendes Faktenwissen, fasst Gesagtes abstrahierend zusammen oder deutet Perspektiven zur Weiterführung einzelner Gedanken an usw. Im Zentrum steht das unmittelbar Sichtbare der Szenen; sogar der Gesamtplot der jeweiligen Filme spielt hier nur eine untergeordnete Rolle, fließt als Information nur dort ein, wo Huet es für ihre Detailerörterungen gebrauchen kann – und schnell ist zu erkennen: sie braucht es erstaunlich selten. Die Stimme hat einen selbstbewussten Klang, ist ruhig, aber bestimmt – es schwingt in ihr ein Wissen um den klaren eigenen Standpunkt mit. Hier, auf im weitesten Sinne geisteswissenschaftlichem Terrain, das mit simpler Wahr-Falsch-Logik nicht zu erschließen ist, bedeutet das eben auch: Offenheit für die Standpunkte anderer. Sie respektiert, d.h. kennt ihren Gegenstand und sie nimmt ihre Schüler ernst. Man könnte auch sagen: Hier spricht das Ideal von der Empathie-begabten Lehrkraft.

7. Gespräch im Klassenzimmer

Zwei weitere Stimmen beteiligen sich an diesem modellhaften Gespräch, ein Junge und ein Mädchen, beide um die zehn Jahre alt, also recht jung. Die Zahl zwei steht für mehr als einen, also für viele, für eine ganze Klasse beispielsweise. Die Zahl drei steht für Dynamik, in diesem Fall zusätzlich für eine leichte Hierarchie, für angeleiteten Austausch.

Auch Alain Bergala benutzt in seinem Kommentartext für Combat avec l’ange, seinem Bonus-Beitrag auf derselben DVD, Formeln der direkten Ansprache. Doch sein ohne konkretes Gegenüber auskommendes Duzen baut einen anderen sozialen Raum: Bergala versucht sich an Rousseau in »Emile«. Rousseau musste seine erzieherischen Konzepte – teils aus literarischen, teils aus gesellschaftlichen Gründen seiner Zeit: Emile stammt aus adeligen Verhältnissen und ist allein mit seinem Erzieher – in die Form eines hierarchisierten Zwiegesprächs kleiden. Der Gelehrte füllt sein Wissen in das leere Gefäß des kindlichen Geistes. Aus heutiger Perspektive lässt sich die Rollenverteilung zwischen Lehrer und seinem sozial privilegierten Zögling auch positiv als Metapher für uneingeschränkte Hinwendung lesen. In diesem Sinne bedient Bergalas intimistischer Kommentar identifikatorische Königskinder-Phantasien seiner Zuschauer.

Anne Huet, langjährige Mitarbeiterin Bergalas, tritt aus dieser Wunsch-Blase heraus. Ihr Modell richtet sich konkreter an der Situation im Klassenzimmer aus. Es sei nochmals betont: Dabei stehen zwei Dinge gleichberechtigt im Vordergrund, das Kino einerseits, die Persönlichkeiten der Kinder andererseits. Denn es geht wirklich und ernsthaft um ein Gespräch, in Abgrenzung zum Dialog zwischen Prüfer und Prüfling. Die Fragen mögen klug konzipiert sein, es sind vor allem die Antworten, die den Film sehenswert machen. Und gerade der Umstand, dass man auch als erwachsener Zuschauer diesem Austausch mit Interesse und Erkenntnisgewinn folgt, verdeutlicht, dass (und wie) die Beschäftigung mit Film auch in der Schule schon sehr früh beginnen kann.

Natürlich hat die Regisseurin/Autorin Anne Huet den gesamten Dialog verfasst; insofern ist die unausgesprochene Behauptung einer genuin kindlichen Ausdrucksweise mit Vorsicht zu genießen. Dennoch: Die Sprache ist allgemeinverständlich gehalten. An den meisten Stellen KÖNNTEN die Aussagen tatsächlich einem real in der Schule geführten Gespräch entstammen - Ausweis eindeutiger Erfahrungen Huets in konkreter Vermittlungsarbeit. [2]

[2]Vgl.: »Beim Kino ansetzen – Ein Gespräch mit Anne Huet«

Interessant ist, wie sie die Besetzung der »Lehrerin« angeht: Indem die Regisseurin Huet diese Rolle von der Darstellerin Francoise Lebrun sprechen lässt, stellt sie einen weiteren Bezug zum Kino Jean Eustaches her. Lebrun spielte neben Jean-Pierre Léaud und Bernadette Lafont die dritte Hauptrolle in Eustaches Hauptwerk La maman et la putain. Sie bringt also nicht nur eigene Set-Erfahrung ein; in La maman et la putain spielt sie noch dazu eine Figur, die genau weiß, was sie will, die gleichsam eine natürliche Autorität ausstrahlt. Dadurch drängt sich die Assoziation von der strukturellen Ähnlichkeit zwischen Lehrer- und Schauspieler-Beruf auf.

Nicht zuletzt ist Huets Arbeit eine stille Aufforderung eingeschrieben: Selber machen! Eigene Themen finden, passende Ausschnitte suchen, Fragen entwerfen! Dazu passt, wie Huet den Schluss ihres Beitrags gestaltet hat: Das Ende des Films bleibt offen, die Analyse aus Prinzip unvollendet. Die Stimme der erwachsenen Frau hatte »die Stunde« bereits eröffnet, jetzt beschließt sie sie auch, ganz im Einklang mit der Lehrern gewöhnlich zugewiesenen Macht. Im Tonfall der Selbstverständlichkeit verabschiedet uns eine vertraute Floskel, die anzeigt, dass wir uns ohnehin in einer lebenslangen Lerngemeinschaft befinden: »Schluss – für heute!«.

Filmografie