Filmvermittlung und Filmrestaurierung

Der Streit um »L’Atalante«
Einige Beobachtungen zur Arbeit der Filmrestaurierung

Aus einem Gespräch mit Bernard Eisenschitz

Auszug aus einem Interview mit Bernard Eisenschitz, geführt in Paris am 15. Juni 2008 von Volker Pantenburg, Stefan Pethke, Erik Stein

Können Sie uns den Fall der Restaurierung von »L’Atalante« aus Ihrer Sicht schildern?

In den 80er Jahren gab es eine Fernsehserie über die Gaumont, von Pierre Philippe. Darin zeigte er jeden Sonntag um 12 Uhr mittags Stummfilme der Gaumont. Philippe bot eine ernstzunehmende Auswahl von Stummfilmen an, allerdings zeigte er oft nur Ausschnitte. Die Sendung stellte auch junge Sänger vor, die als Conférenciers auftraten, als muntere Moderatoren. Die haben sich zwar nicht lustig gemacht über die Filme, eher ging es um eine Geste des Augenzwinkerns in Richtung Publikum, um es mit Stummfilmen vertraut zu machen. Außerdem haben die Showeinlagen den Ablauf der Sendung gegliedert. Auf diese Weise hat Pierre Philippe eine ganze Menge von Gaumont-Filmen wieder hervorgeholt. Das war der Beginn der Restaurierungen der Gaumont-Filme, insbesondere eines Films, den Godard in den Histoire(s) du cinéma und anderswo mehrmals zitiert: Le Mystère des roches de Kador von Léonce Perret (F 1912, Société des Établissements L. Gaumont). Dieser außerordentlich faszinierende Film wurde auf diese Weise gerettet, d.h. der ist zu dieser Zeit von der Gaumont restauriert worden, in Ausschnitten, die dann Pierre Philippe in seiner Sendung ausstrahlte. Das war natürlich absolut unzureichend: Auch 1996, als im Rahmen der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen der Cinémathèque Francaise eine Hommage an die Gaumont veranstaltet wurde, haben sie diese Filme lediglich in dieser unvollständigen Form gezeigt. Bei Godard handelt es sich um dieses heute sehr bekannte Bild von der Frau, die sich Filmaufnahmen eines traumatischen Erlebnisses anschaut, eines Mordes am Strand, den sie miterleben musste und der mit einer Kamera aufgenommen worden war. Sie bekommt die Szene vorgeführt, sie tritt vor die Leinwand und erleidet einen Schock, der ihr das Gedächtnis zurückgibt. Sie wissen, dass sich die Arbeit an den Histoire(s) du cinéma über Jahre hingezogen hat; Godard muss das gegen Ende der 1970er Jahre, spätestens Anfang der 80er, aufgenommen haben. Es wäre einmal interessant, die Cinémathèque Gaumont [1] zu fragen, von welchem Zeitpunkt an sie sich für ihre eigene Vergangenheit zu interessieren begonnen haben. Während dieser 1996er Retrospektive haben sie jedenfalls einiges von diesen Filmen gezeigt, die sie auf diese Weise gerettet hatten, auch ganz frühe Filme, außerdem mehrere Filme von Feuillade und solche Sachen. Aber in den 1980ern hatten sie sich – soviel ich weiß – noch keiner wirklichen Politik der Filmbewahrung verschrieben. Und kurze Zeit später sind sie genau dieses Unternehmen der Restaurierung von L’Atalante angegangen, die in vielerlei Hinsicht katastrophal ausgefallen ist. Diese Restaurierung wurde eben von Pierre Philippe 1990 durchgeführt, gemeinsam mit dem Cutter Jean-Louis Bompoint [2].

[1]gewissermaßen die für Restaurierungen zuständige Abteilung von Gaumont Pathé Archives – A.d.R.
[2]Website von Jean-Louis Bompoint, Stand: 25.5.2009; Anmerkung B.E.: eine aggressive Attacke am Rande des Wahnhaften auf die Richtigstellungsarbeit, die ich 2001 gemacht habe

Diese Restaurierung war es, gegen die wir – andere Filmhistoriker, Luce Vigo und ich – protestiert haben, und die den Anlass gestiftet hat für die Restaurierung, die ich dann also 2001 gemacht habe, zur Veröffentlichung der Vigo-DVD-Box, der filmischen Gesamtausgabe des Regisseurs. Da war auch der Film dabei, den ich über die verschiedenen Versionen von L’Atalante gemacht habe. Auch den Film von Rohmer, wo er Truffaut interviewt, findet man dort und auch eine Art Vorwort von Pierre Philippe aus dem Jahr 1990, wo er seinen eigenen Restaurierungsansatz verteidigt: Philippe war hingerissen von den Mustern – zwei einhalb Stunden Material, dessen Existenz zwar bekannt war, das trotzdem nur wenige Menschen zuvor gesehen hatten –, also hat er beschlossen, alles zu verwenden. D.h. er hat sich über Schnittentscheidungen von Vigo hinweggesetzt – Szenen, von denen wir über Selbst- und über Fremdzeugnisse wissen, dass Vigo sie herausgeschnitten hatte. Ein Beispiel: Vigo war der Auffassung, dass man Kind nicht schlagen darf, auch nicht im Scherz. Also hat er das Ende derjenigen Einstellung herausschneiden lassen, wo Michel Simon seinen jugendlichen Gehilfen dabei überrascht, wie er ihn von außerhalb eines Cafés beobachtet. Simon kommt auf die Straße, gibt dem Jungen einen Tritt und sagt ihm: »Mach’, dass du nach Hause kommst!«. Es gab ganze Sequenzen, die nicht zusammenpassten, z.B. eine, die zwar gedreht, aber später von Vigo ersetzt wurde durch die Voice-over von Jean Dasté, dem männlichen Hauptdarsteller. Philippe setzt die Sequenz wieder ein, aber damit hat er wiederum die sehr schöne Rede von Dasté herausschneiden müssen, wo der im Off mit Dita Parlo spricht, die sich gerade im Spiegel betrachtet. »Sei mir nicht böse, du weißt doch, der Alte ist verrückt« und so weiter. Das war jetzt nicht mehr da. Oder als Michel Simon am Kanalufer spazieren geht und an einem Hotel vorbeikommt: Zunächst gibt es einen Horizontalschwenk, der Simon begleitet; dann schwenkt die Kamera die Hotelfassade hinauf; es gibt einen Jumpcut, die Kamera schwenkt die Hotelfassade wieder hinab und wir sehen Michel Simon einer Frau in das Hotel folgen. Philippe und seine Mitarbeiter haben das nicht begriffen, die haben das für einen klassischen filmgrammatischen Fehler gehalten. Also haben sie die Einstellung herausgeschnitten, wo Simon am Hotel ankommt, einzig um nicht auf einen Schwenk einen weiteren folgen lassen zu müssen.

Der schockierendste Eingriff erfolgte gegen Ende des Films: Dita Parlo arbeitet in dieser Art Salon, wo man Schallplatten in Einzelkabinen anhört. Sie setzt sich Kopfhörer auf, sucht sich eine Platte aus, den «Chant des mariniers» (* Gesang der Schiffer*), dann hört sie sich selbst, ihre eigene Stimme und die von Jean, wie sie gemeinsam ihr Lied singen. Die Restaurateure von 1990 haben hier wieder etwas Entscheidendes nicht verstanden, dass es sich nämlich um eine akkustische Halluzination handelte, genauso wie Jean eine optische Halluzination gehabt hat, als er seinen Kopf ins Wasser taucht und Juliette (also Dita Parlo) erblickt. Stattdessen legen sie eine voll orchestrierte Fassung des Lieds unter die Einstellung, jene Version des Stücks, die man während des Vorspanns hört.

Ein weiteres, letztes Beispiel: Vigo hatte im Drehbuch geschrieben: Vater Jules kämpft mit sich selbst in Doppelbelichtung. Also haben sie die Doppelbelichtung hinzugefügt. Allerdings kann niemand wissen, ob Vigo das auch so gemacht hätte. Die Entscheidungen, die im Schneideraum getroffen werden, stehen nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit dem, was vorher einmal in das Drehbuch geschrieben worden ist, schon gar nicht, wenn man so arbeitet wie Vigo, der sich gerne vor Schwierigkeiten stellte, um frische, ungeplante Lösungen zu provozieren.

Diese Entscheidung, alles verfügbare Material auch zeigen zu wollen, die ist also nicht aus philologischen Gründen erfolgt, so wie man es etwa von Jay Leydas »Que Viva Mexico«-Rekonstruktion kennt?

[3]in: Nathalie Bourgeois, Bernard Benoliel, Stéphanie de Loppinot (Hg.): L'Atalante: un film de Jean Vigo, Cinémathèque française/Pôle méditerranéen d’éducation cinématographique, Paris 2000 – A.d.R.
[4]Raymond Bellour, Le Corps du cinéma, Paris, P.O.L., 2009, S. 75-76: »Eine Nahaufnahme der Uhr betont die runde Form, die sie bildet. Und beinahe im selben Augenblick öffnet sich in ihrem Zentrum eine schwarze Fläche, über eine Irisblende, deren Form jene der Uhr verdoppelt (…): mit der sich stetig ausbreitenden Irisblende fährt ein Zug geradewegs aus der Tiefe des Bildes heran, bis die Blende ganz aus dem Bild verschwunden ist.«; dazu die Fußnote auf S. 76: »So sieht die Auflösung auf der Kassette aus, mit der ich lange gearbeitet habe (eine Kopie der ersten Restaurierung, ausgestrahlt auf arte). Drei Einstellungen fehlen in der Fassung, die MK2 auf DVD herausgegeben hat und die der Restaurierung von 2000 folgt, einer Zusammenarbeit von drei deutschen Archiven, darunter die Friedrich Murnau-Stiftung: die Nahaufnahme der Uhr; ein Auto, das eine Reihe von anderen Aktionen auslöst; der Zug mit der sich öffnenden Irisblende. Diese Einstellungen werden ersetzt durch eine Einstellung des Zugs, der in einer Diagonalen auf uns zufährt, ohne dass sich eine Irisblende öffnet. Beunruhigt von dieser von mir als wenig Lang-typisch wahrgenommenen Auflösung, erfragte ich bei Janet Bergstrom eine genaue Einstellungsliste dieser Sequenz, die der italienische Spezialist und Verantwortliche für Restaurierungen bei der Murnau-Stiftung, Nicola Mazzanti, aufgestellt hatte, als er noch Leiter von »L'imagine ritrovata« in Bologna war (ein auf restaurierte Filme spezialisiertes Kopierwerk; A.d.R.; s. auch: Pabst wieder sehen). Zwei der drei arte-Einstellungen finden sich dort wieder, sogar in unmittelbarer Folge, ohne den Zwischenschnitt auf das Auto: die Uhr und der Zug in der Irisblende. Was ist da geschehen? Ein Rätsel. Bernard Eisenschitz, dem ich beide Versionen der Sequenz und auch Mazzantis Liste zeigte, teilt eindeutig meine Einschätzung, wonach diese letzte, auf DVD präsentierte Restaurierungsfassung wenig plausibel ist.« - Hinzufügung von B.E, Übersetzung d.R.

In keiner Weise! Hier handelt es sich um Leute, die sich anmaßen zu wissen, was Vigo gemacht haben würde. Die haben auch bei dem Kneipenlied eine Strophe hinzugefügt; dadurch wird die Szene viel zu lang. Außerdem hat die Hinzufügung einer weiteren Strophe dazu geführt, dass nun der gauklerhafte Sänger, gespielt von Gilles Margaritis, gar nicht mehr eingreifen kann, das Protagonistenpaar gar nicht mehr vorher treffen kann. Um das zu kompensieren, mussten sie die Sequenzen umschneiden. Nun ja, um es kurz zu machen: Dieses Team hat sich für Eingriffe entschieden, die man nicht machen kann, ohne das Montagekonzept des Films zu zerstören. Dabei geht es nicht mehr nur um einfache Schnitte oder Zusätze. Wir wissen, dass an L’Atalante sehr viel herumgeschnitten worden ist, also müssen diese Leute sich gesagt haben: Wir werden die ursprüngliche Schnittfolge wieder herstellen. Aber die haben eben nicht einfach die ursprüngliche Schnittfolge wiederhergestellt, die haben bestenfalls eine Art hypothetischen Vor- bzw. Rohschnitt rekonstruiert. Luce Vigo und ich sowie einige andere, v.a. etliche Teilnehmer einer Podiumsdiskussion auf dem Stummfilm-Festival »Cinema ritrovato« in Bologna im Juni 2001, fanden das extrem schockierend und wir konnten darauf drängen, dass das korrigiert wird. Die Restaurierung von 1990 hatte die Gaumont viel Geld gekostet, aber wir konnten immerhin verlangen, dass wenigstens dieses oder jenes wieder entfernt wurde bzw. dass einige Einstellungen wieder hineingenommen wurden. Aus finanziellen Gründen war das keine echte Restaurierung am Schneidetisch. Wir haben auch nicht an der Lichtbestimmung arbeiten können, beispielsweise. 1990 hatten sie eine sehr gute Arbeit bei der Bildrestaurierung geleistet, bis dahin sah das Bild wirklich schlimm aus. Allerdings hatten sie sich für eine sehr dichte, sehr dunkle Lichtbestimmung entschieden. So bekam L’Atalante eine Art »sowjetische« Bildästhetik. Ich habe zwar selbst einen Essay über L’Atalante »als sowjetischer Film« geschrieben [3], aber so weit habe ich nicht gehen wollen! Ich glaube, man hätte mehr über das Bild nachdenken müssen. Das haben sie damals nicht getan, weil das Ergebnis so hübsch anzuschauen war. Ich bin dagegen der Meinung, dass das ursprüngliche Bild allgemein heller war.

L‘Atalante war mein zweiter Auftrag für eine Analyse in filmischer Form. Die Vorstellung erschien mir wichtig, sowohl diese Restaurierung durchzuführen als auch einen Kommentar abzugeben, der erklärt: Warum noch eine Restaurierung?

Heutzutage erleben wir ja einen wahren Restaurierungswahn. Ich habe gerade festgestellt, dass die momentan letzte Restaurierung von Doktor Mabuse dem Film nicht gerecht wird! Dabei handelt es sich angeblich um die bisher wissenschaftlichste und ernsthafteste Restaurierung dieses Films, bei der haben die Kinemathek von Bologna und die Murnau-Stiftung zusammengearbeitet. Raymond Bellour, der zu Mabuse arbeitet, hat mir seinen arte-Mitschnitt gezeigt, wo es ganz zu Beginn einen Bildwechsel per mit einer Irisblende gibt – vom Lang’schen Standpunkt ein sich aufdrängendes Verfahren. In der neuen Restaurierung wurde die Irisblende ersetzt durch ein Bild mit vollkommen anderer Dynamik [4]. Was auf arte vor zehn, zwölf Jahren ausgestrahlt wurde, war bereits eine Restaurierung – und was jetzt auf DVD vertrieben wird und für immer vertrieben werden wird, ist eine Fassung, die schummelt, die nicht mehr Langs Film repräsentiert, so dass es einmal mehr darum gehen wird, doch noch eine wirkliche Ursprungsfassung zurückzugewinnen. Darin besteht der Wahn der sich überlagernden Restaurierungen, das ist schon ziemlich dramatisch. Im Falle Gaumonts schien es mir wichtig, mit diesem kleinen Film und anhand konkreter Belege zu erklären, weshalb wir nur 10 Jahre nach der letzten eine erneute Restaurierung für nötig hielten. Wir hatten das Glück, dass die Gaumont 2001 Geld vom Bildungsministerium bekam, denn L’Atalante war für die nächsten drei Jahre Teil des Abitur-Programms, also hat sie die neue Fassung nichts gekostet! Unsere Arbeit war ebenso an der Ebene der Filmerzählung ausgerichtet wie an gewissen philologischen Kriterien. Wir haben verschiedene Fassungen miteinander verglichen und schließlich für eine Version plädiert, die puristischer sein sollte als ihre Vorgängerin. Im Übrigen hat der Cutter der Vorgängerversion eine sehr aggressive Polemik gegen uns vom Zaun gebrochen, das ging bis zur Androhung von körperlicher Gewalt…

Bis dato ist L’Atalante das einzige Restaurierungsprojekt, an dem ich gearbeitet habe. Aber es gibt mehrere Angebote für weitere Restaurierungen und auch Anfragen für Restaurierungskritiken.

Wenn es so etwas wie eine Typologie von Verfahren gäbe, die bei der filmischen Darstellung der Filmrestaurierung zum Einsatz kommen, dann muss man ganz sicher den Versionenvergleich nennen.

Genau. In der Art wie Luciano Berriatúa das für Der letzte Mann (oder auch für Faust) gemacht hat. Berriatúa macht einen Versionenvergleich, weil er den Film persönlich restauriert hat. Er zeigt also die verschiedenen Negative. Hier geht es um eine Restaurierung, die von unterschiedlichen Quellen ausgeht. Auch bei L’Atalante verfügten wir über unterschiedliche Quellen, doch hatten wir von Anfang an eine klare Grundlage: Unsere Restaurierung verstand sich ja lediglich als Nachbesserung der Restaurierung von 1990. Dabei wäre es von Anfang an sinnvoller gewesen, gleich die Fassung zu nehmen, die 1934 in England vorgeführt worden war, denn diese Kopie ging den verschiedenen Manipulationen voraus, denen der Film danach zum Opfer fiel, um schliesslich beim französischen Einsatz Le Chaland qui passe (Der Lastkahn, der vorüberzieht) zu werden. Dieser englischen Fassung hätte man nur noch die fehlende letzte Einstellung, diese Luftaufnahme aus dem Flugzeug, hinzuzufügen brauchen.