Filmvermittlung und Filmkritik

An »Filmtips« arbeiten
Ein Werkstattbericht

Von Cristina Nord

Wer Filmkritiken für die Zeitung schreibt, kennt das Problem: Sprache ziert sich, wenn es gilt, optische und akustische Sinneseindrücke anschaulich wiederzugeben. Das macht es dem, der in seinen Texten nicht darauf verzichten möchte, den Film in seiner Eigenschaft als Film zu behandeln, der Bilder, Bildkompositionen, Schnittrhythmen und Farbgebungen vorstellen und analysieren möchte, nicht einfach. Fachspezifische Termini können ihm zwar helfen, verlangen aber ihrerseits oft nach Erklärung, da nicht jedem auf der Stelle einleuchtet, wofür Begriffe wie Eyeline Match, angeschnittene Kadrierung oder Jump Cut stehen.

Bei der Arbeit an einem Filmtip stellt sich dieses Problem auf andere Weise. Die Bilder sind schon da, ihre Anschaulichkeit ist gegeben, der Umweg über die Sprache ist nicht nötig. Wenn Gus Van Sant in mehreren Szenen von Last Days Scheiben aufnimmt, die unterschiedliche Stadien von Durchsichtigkeit und Undurchsichtigkeit zulassen, dann reichen ein paar Wörter zusammen mit den entsprechenden Standbildern, dieser Beobachtung Ausdruck zu verleihen. Was gemeint ist, ist unmittelbar zu sehen – etwa eine Windschutzscheibe, in der sich Baumkronen und Wolken so spiegeln, dass Fahrer und Beifahrer im Wagen nur schemenhaft zu erkennen sind. Das seltsame Wechselspiel von Transparenz und Undurchsichtigkeit ist nachvollziehbar, ähnlich wie mit drei, vier Standbildern die spezifischen Lichtverhältnisse und Farbtönungen anschaulich werden, mit denen Daniel Burman in seinem Film El abrazo partido eine Ladenpassage in Buenos Aires in Szene setzt. (Ironie am Rande: Im schreibenden Nachvollzug, wie ich ihn hier gerade praktiziere, verhält es sich um diese Anschaulichkeit schon wieder viel prekärer, als wenn Sie sich das entsprechende Standbild oder die entsprechende Szene anschauen könnten.)

Der Umstand, dass die Bilder da sind, zwingt dazu, sich gut zu überlegen, wieviel und welchen Text man ihnen zugesellt. Man kann still bleiben und die Bilder laufen lassen, was gut ist, damit der Film Gelegenheit findet, sich zu entfalten, bevor er – im Wortsinn – besprochen wird. Man kann des weiteren einfach nur beschreiben, was man sieht. Dabei läuft man Gefahr zu verdoppeln, was der Zuschauer ohnehin vor Augen hat. Es gilt, eine Balance zwischen dem allzu Naheliegenden und der Beobachtung, die darüber hinausgeht, zu finden. Sobald man dies in Richtung einer These ausweitet, geht man das Risiko ein, zu schnell vom Modus der Beschreibung in den der Interpretation zu wechseln. Als ich an dem Filmtip zu Yella arbeitete, fiel mir auf, dass der Regisseur Christian Petzold und der Kameramann Hans Fromm die Bilder oft mit vertikalen Linien strukturieren, mit Lichtleisten, den Streben einer Büro-Jalousie oder mit Betonsäulen. Daraus leitete ich einen Satz über Hierarchien ab, die von oben nach unten verlaufen. Als ich den Filmtip kürzlich wiedersah, kam mir das unangemessen vor, wie eine allzu umstandslose Abfertigung des Materials. Und weil sich das Material meist stärker behauptet als die Interpretation, bekommt der Text ein Glaubwürdigkeitsproblem. Interessanter ist es, wenn sich der Kommentar von solchen Formen der Bevormundung freimacht. Je mehr von »close reading« die Beobachtung hat, je mehr Mikrostrukturen veranschaulicht werden, ohne vollständig ausgedeutet zu werden, umso gerechter wird man dem Material, umso besser nutzt man die Möglichkeiten, die der Filmtip bietet.

Auf diese Weise lässt sich einiges zutage fördern. In Pedro Almodóvars Film La mala educación gibt es eine Szene, in der Juan, gespielt von Gael García Bernal, durch eine Art Theaterfundus streift. Das Gesicht versteckt er unter einer großen Sonnenbrille. Im Vordergrund steht die Skulptur eines Vogels mit geöffnetem Schnabel. Im Hintergrund geht von links nach rechts Juan durchs Bild. Für den Bruchteil einer Sekunde steckt sein Gesicht – genauer: sein rechtes, hinter dem dunklen Glas der Sonnenbrille verborgenes Auge – zwischen den beiden Schnabelhälften, es sieht aus, als würde der Vogel es der Figur im nächsten Augenblick aus der Augenhöhle herauspicken. Auf einer inhaltlich-interpretatorischen Ebene passt das gut zu dem Umstand, dass La mala educación die Figuren in Intrigen und Ränkespielen verstrickt. Doch ist es gar nicht unbedingt nötig, dies im Text explizit zu machen. Das Bild ist stark genug, um für sich allein zu stehen.

Zugleich passiert hier etwas, was an den Begriff des Optisch-Unbewussten erinnert, den Walter Benjamin in seinem Essay »Kleine Geschichte der Photographie« einführte: »Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ›Ausschreitens‹. Die Photographie mit ihren Hilfsmittel: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.« Juans Auge im Schnabel, mit bloßem Auge nicht wahrnehmbar, solange der Film läuft, wäre ein Pendant zur Körperhaltung des Gehenden im Sekundenbruchteil des ›Ausschreitens‹, sichtbar gemacht erst durch das Kameraauge. So wie die Fotografie einen verborgenen Aspekt der Wirklichkeit zum Vorschein bringt, so fördert das Standbild einen verborgenen Aspekt des Films zutage. Das verschafft nicht nur neue Erkenntnisse, es ermöglicht auch eine neue Form der Schaulust. Vor langer Zeit, ich schrieb noch keine Filmkritiken, schaute ich mir zuhause From Dusk Till Dawn von Quentin Tarantino und Roberto Rodriguez an. Dabei fing ich an, mit der Standbildtaste des Videorekorders zu spielen. Die Eigenständigkeit und die Durchkomponiertheit eines jeden Einzelbildes verblüfften mich so sehr, dass ich nicht recht einsehen wollte, warum diese Dimension eines Films für gewöhnlich unerkannt bleibt. Der Zugewinn an Schaulust und Erkenntnismöglichkeit, der über das Standbild erreicht wird, gleicht etwas aus, was man dem Filmtip zum Vorwurf machen könnte: dass die Sendung den Film in seine Einzelteile zerlegt, ihn zerstückelt, gegen das Prinzip des bewegten Bildes verstößt.

Schwierig gestaltet sich der Sprung vom Detail zu größeren Zusammenhängen. Schon der Verweis auf ein filmgeschichtliches Vorbild fällt nicht leicht, solange man, etwa aus urheberrechtlichen Gründen, keine Bilder dieses Vorbilds verwenden kann. Bei Yella hätte ich gerne etwas über die Nähe zu Carnival of Souls gesagt, unterließ dies aber, weil mir keine Bilder aus dem US-amerikanischen Horrorfilm zur Verfügung standen. Und die Art und Weise, wie sich Yella mit Finanzgeschäften befasst, wie der Film das Gespenstische des Kapitalismus herausschält, darzulegen, ist etwas, was im Kommentar ein wenig unbeholfen und forciert erscheint, denn kapitalismuskritische Sätze werden leicht zu Floskeln. Ähnliches gilt für Gus Van Sants Last Days. Der Name der Hauptfigur evoziert den Dichter William Blake und, damit zusammenhängend, Vorstellungen von Transzendenz jenseits von Religion. Das erwähne ich im Filmtip zu Last Days zwar, führe es aber nicht weiter aus, eben weil es schwierig ist, in einem auf insgesamt vielleicht vier, fünf Minuten begrenzten Textanteil einen begrifflich-philosophischen Raum zu durchmessen.

Vielleicht ist das ohnehin etwas, was in anderen Formate besser aufgehoben ist als im Filmtip. Das Schöne an der Sendung ist ja, dass die Reflexionen immer wieder zum Konkreten, zum sinnlich Wahrnehmbaren zurückkehren. Theorie ist nicht notwendigerweise ausgeschlossen – manchmal zeigt sie sich in Splittern, etwa wenn man sich anschaut, wie Gus Van Sant in Last Days seinen Protagonisten in Hohlwegen, Türrahmen oder Tordurchgängen in Szene setzt.