Cinéphilie: André S. Labarthe

Am Anfang schaute ein Film einen anderen an

Ein Gespräch mit André S. Labarthe

— Um einzusteigen: die Filmografie, die wir auf unserer Website aufbauen, soll natürlich weiter wachsen. Man muss zumindest die filmografischen Daten zugänglich machen und darauf hinweisen, das dort eine parallele Geschichte des Kinos zu finden ist, die auch genauso eine Geschichte von – wenn man so sagen will – »Autoren« ist wie das Kino der großen Filmwerke.

Deshalb sind wir auf Ihre beiden Sendereihen »Cinéastes de notre temps« und »Cinéma, de notre temps« gestoßen, in denen, wie mir scheint, der Begriff des Autors auch sehr stark ist.

André S. Labarthe: Zu Beginn von »Cinéastes de notre temps« handelten die Sendungen von Filmemachern, von Autoren, die wir damals mochten … Renoir zum Beispiel. Und dann haben wir sehr schnell die Filmemacher selbst gebeten, Filme für uns zu machen. Deshalb hat dann Rivette den Film über Renoir gemacht, Rohmer den über Dreyer. Später Limousin den Film über Kiarostami. Oder Rafi Pitts, ein iranischer Regisseur, den Film über Ferrara – da haben wir die Länder gekreuzt. Paulo Rocha hat einen Film über Olivera und noch einen weiteren über Imamura gemacht. So haben wir das versucht.

In der zweiten Reihe, in »Cinéma, de notre temps« wurde das dann auch Teil von so etwas wie einer neuen Cinephilie, die etwas globaler war bzw. ist?

Im Grunde war die zweite Reihe gleich der ersten, wir haben nur den Titel geändert. »Cinéastes« traf es nicht gut, weil es behauptet, von den Filmemachern unserer Zeit zu handeln – was nicht richtig war. Die Sendung konnte genauso gut über die Brüder Lumière sprechen. Mit dem Komma in »Cinéma, de notre temps« wollten wir sagen: Kino, das ist immer zeitgemäß. Das Kino ist immer Teil der Gegenwart. In diese Richtung sind wir gegangen. Wichtig war aber auch, dass die Autoren der Filme, die Regisseure, sehr viel mehr Autonomie in Bezug auf das Thema hatten. Es gab kein Pflichtenheft, wir haben nicht verlangt, alle biographischen Informationen über einen Filmemacher unterzubringen. Die kann man besser in Büchern finden. Nicht Geburtsdaten nennen, sondern etwas mit den Autoren erleben. Und gleichzeitig diese erlebten Momente eventuell – nicht unbedingt – mit Ausschnitten aus Filmen zu verbinden.

Waren das zwei verschiedene Heransgehensweisen, über den Autor bzw. über den Film, oder nur zwei Seiten, sich dem Thema zu nähern?

[2]Siehe »Das Kino zitieren«

Nein, wir sind niemals vom Film ausgegangen, es war immer der Autor, das Individuum. Man könnte sehr gut einen Film über einen Autor machen, ohne einen einzigen Filmausschnitt zu zeigen. Es gibt viel Möglichkeiten, wie man einen Film zitieren kann. Ich habe mal einen Text geschrieben über das Zitieren, darüber, dass es eine Art Regel des Zitierens gibt [2] . Ich wollte zeigen, wie man mit diesen Gesetzmäßigkeiten umgehen kann. Wenn man ein zu kurzes Zitat nimmt, könnte man sagen, dass es kein Film mehr ist, sondern nur noch ein Stück. Wenn man dagegen zu lange zitiert, wird der Zuschauer von dem Film aufgesaugt, er findet nicht mehr zur Oberfläche des Films zurück. Diese Regeln haben wir entdeckt, während wir unsere Filme gemacht haben.

Die Frage des Zitierens ist wirklich der Kern vieler anderer Fragen, Fragen der Techniken, des Rechts, wem gehört ein Bild usw. Manchmal ist es eine einzige Produktionsgesellschaft, die durch ihre Verweigerung, ihr Einverständnis für die Veröffentlichung zu geben, alles blockiert.

Allerdings. Ich kenne das auch von der Veröffentlichung der DVDs der Sendungen, 17 insgesamt, glaube ich. Wir konnten einige rechtliche Probleme nicht lösen und es war zum Beispiel unmöglich, die Filme über die amerikanischen Filmemacher, über Scorsese, Cronenberg, zu veröffentlichen.

Aber auch unabhängig von der rechtlichen Fragestellung kann man sagen, dass die Art und Weise des Zitieren dazu gehört, was Sie die »Mise en scène« Ihrer eigenen Arbeit genannt haben.

Ja, genau. Die Herangehensweise unterscheidet sich nicht. Es gibt Besonderheiten im Kontakt, aber das ist so bei jedem beliebigen Film. Wenn ich eine Dokumentation über etwas oder jemanden machen will, muss man sich etwas ausdenken. Mit dem Kino als Sujet ist es das gleiche: Einfach weil das Kino ein Objekt ist, dass man nicht direkt abfilmen kann. Man kann einen Film zitieren, aber man kann ihn nicht filmen.

Abgesehen davon, wenn man Reportagen von Dreharbeiten macht.

Wir haben davon nicht besonders viele. Ein paar Mal haben wir bei Dreharbeiten gedreht, aber diese dann nicht in den Film hineingenommen. Weil man von Dreharbeiten nichts lernt, das ist immer die selbe Sache. Also schwierig, damit umzugehen.

Um etwas allgemeiner zu fragen, uns interessiert sehr, wovon Sie ausgehen in Ihrer Regiearbeit, der »mise-en-scène».

Das Wort »mise-en-scène« ist erstmal fragwürdig. Das Wort »réalisation« ist sehr viel offener. Es klingt technischer. Ich habe keinen guten Begriff gefunden, um vom Filmemachen zu sprechen. In den fünfziger Jahres war die mise-en-scène das magische Wort. Seit dem hat sich die Arbeit allerdings ausdifferenziert, in den Mitteln, den Techniken, den Aufnahmeverfahren. Genauso frage ich mich, welche mise-en-scène mit dem Begriff gemeint ist? Es gibt schöne Filme, Schnitte, alles was man sich vorstellen kann, aber ohne mise-en-scène, der mise-en-scène im Sinne des Theaters.

Als wir letzten Samstag [3]_ Ihren Film über und mit Bernadette Lafont gesehen haben (Bernadette Lafont, exactement), fand ich es sehr auffällig, wie unterschiedlich Sie dort ein Portrait von Jean Douchet auf der einen und Dominique Païni auf der anderen Seite machen. Ich hatte wirklich den Eindruck, dass Sie, wie ein Spielfilmregisseur, absolutes Vertrauen hatten. Sie wussten, die Lafont ist die Lafont, sie kann sich darstellen, sie ist präsent. Dann die beiden anderen: Douchet fast barock, mit einem Spiel von Spiegeln, Païni dagegen in einer Salon-Szene, wenn man so sagen kann.

Ja, bitte, so ist es, ein Salon. Ich habe mit dem Unvorhergesehenen gearbeitet, ihn in eine – nicht feindliche, aber für ihn etwas gefährliche Umgebung gesetzt.

Jedenfalls fühlte er sich ziemlich in Frage gestellt, das konnte man sehen. So, wie er gelacht hat. Das trägt Ihre Handschrift.

Ja, weil ich sehr gerne die Elemente, die ich in einen Film bringe, zum Teil des Dekors werden lasse, zum Beispiel jemand, der mit Bernadette sprechen wird, sie zum Sprechen bringen wird. Diese Elemente sind nicht außerhalb des Films. Wenn ein Interviewer normalerweise eine Frage stellt – wir machen das auch oft –, dann steht er vor, oder besser neben der Kamera, im Off. Das ist der besondere Punkt, mit dem der Blick gelenkt wird, er erlaubt es, die Aufmerksamkeit der Person etwas zu polarisieren.

Zu Beginn, als das Fernsehen noch jung war, haben wir auch so gearbeitet. Die Regel war, die Fragen aus dem Film herauszuschneiden. Man hat die Leute interviewt, aber man hat den Interviewer nicht mitgefilmt, und später hat man die Fragen herausgeschnitten. Wenn man die Fragen aber behält, ensteht auch ein Interesse am Fragenden. Und daran, diesen zu zeigen. Stück für Stück bekam auch der Fragende eine Individualität. Er ist zur Person geworden. Er ist nicht nur ein Instrument, sondern auch eine Person. Wo also alle Welt instrumentalisiert wird, bediene ich mich Bernadettes, um Paligni, oder Doucht sprechen zu lassen, um sie zu zeigen. In beide Richtungen. Das ist äußerst interessant, weil es verständlich macht, dass ein Film über jemanden ihn nicht inmitten einer Umgebung isolieren kann. Deshalb ist es interessant, Bernadette bei sich zu Hause zu zeigen und nicht in einem Studio. Es ist furchtbar, jemanden in einem Studio zu interviewen. Das gehorcht dann vorgegebenen, vorher schon bestehenden Regeln, und es gibt dann keinen Bezug mehr zu dem Thema, von dem man ausgegangen ist. Das sind theoretische Regeln. Da hat man dann ganz reine Fragen, die nirgendwoher kommen, und niemand wird mehr sprechen. Jemand der spricht, spricht mit jemandem. Aber im Regelfall wird im Fernsehen versucht, die Leute so zum Sprechen zu bringen, als würden sie mit niemandem sprechen. Man versucht, Interviewer so neutral wie möglich zu haben, transparent gegenüber demjenigen, an den man sich wendet.

Aber von einem anderen Standpunkt aus könnte man sagen, dass es im Studio – oder im Fernsehen – eine Utopie des Labors gibt. Das heißt, die Umgebung wird sich nie ändern. Das ist so ein bißchen wie eine Erfahrung in der Physik oder Chemie. Man hat einen konzentrierten Blick, keine Einflüsse von außen etc. Und deshalb ist dort die Wahrheit zu finden.

Ja. Das sieht man an all den Kinoabenden im Fernsehen. Meine Theorie ist, dass das Kino, um mit Bazin zu sprechen, »Les bords du lumières», eine Kunst der Wirklichkeit war. Beim Filmen geht man von der Wirklichkeit aus. Stück für Stück ist das Kino dann eine Kunst des Bildes geworden. Aber warum ist es dazu geworden? Weil alles kontrolliert sein wollte. Also hat man aufgehört auf der Straße zu filmen, wie die Brüder Lumière in der Straße zu filmen. Übrigens haben auch die Brüder Lumière im Studio gefilmt, sie haben im Hintergrund ein Tuch aufgespannt und wurden so nicht mehr von den Hunden gestört. Und in dem Moment, wo im Film gesprochen wurde, war man im Studio nicht mehr durch die Umgebungsgeräusche behindert. Und so weiter, es gab dann die Maske, die Beleuchter … man hat am Gesicht, am Bild gearbeitet. Im Grunde hat man so Animationsfilme gemacht.

Heute ist man da mittendrin. Das Kino ist eine Kunst des Bildes geworden, aber das hat nichts mit dem Kino der Ursprünge zu tun, dem Cinématographe Lumière.

Vielleicht tauchen diese Einflüsse aber ganz woanders wieder auf, bei Abbas Kiarostami aus dem Iran zum Beispiel.

Aber ja! Man braucht diese Einflüsse, um die Frische wiederzufinden, die es früher gab. Das ist ein Kino der Wirklichkeit. Aber es gibt auch hier ein paar, die dem Kino des Bildes widerstehen, wie Rohmer zum Beispiel, Filmemacher wie er. Sie ignorieren die technische Revolution nicht, sie treffen Wahlentscheidungen im Trotz gegen sie. Man muss sich vorstellen, wie es auch in einem Jahrhundert noch jemanden geben wird, der so filmt wie die Brüder Lumière. Man kann das immer tun. Es gibt die Geräte immer noch, aber niemand benutzt sie mehr. Man ist also unbemerkt woanders hin, man hat die Kunst gewechselt, ohne den Namen zu ändern. Das ist merkwürdig.

Mit einem Mal vermischt sich alles, weil die Wege, Filme zu konsumieren, sich vermischen. Früher musste man in einen dunklen Saal gehen, um Filme zu sehen, heute gibt es tausend Möglichkeiten. Das ändert vieles. Godard hat gesagt: Wenn wenn man einen Film auf einem Bildschirm sieht – von Griffith, oder von Scorsese –, dann ist das kein Film mehr, das ist dann eine Postkarte. Es gibt nur noch Postkarten, wenn man einen Film im Fernsehen schaut. Im Kino, im Lumière’schen Dispositiv, dort war das Schwarz. Das Schwarz war strategisch. Das soll heißen, man machte alles schwarz und hopp!, in dem Moment, in dem dann das Bild begann, hat es die Umgebung ersetzt. Hier, im Fernsehen, ersetzt das Bild nicht die Umgebung. Es ist in einer Umgebung, es koexistiert. Anders gesagt: Ein Film, der hier im Fernsehen läuft, muss eine verrückte Arbeit vollbringen, denn er muss gegen die Waschmaschine und gegen die Blumen in der Vase kämpfen. Gegen die ganze Umgebung, die immer da ist, im Gegenwärtigen. Das verändert den Film als eine Schaffung von Wirkungen auf einen Zuschauer. Weil der Zuschauer hundert Mal so vielen Reizen ausgesetzt ist. Weil es andere Dinge gibt, die ihn verwirren, die schmarotzen. Es gibt Bilder, wir leben in einem Universum von Bildern – von Filmbildern –, aber die wahrgenommenen Bilder sind mehr oder weniger beschädigt, verändert, gestört.

Ihre Fernsehsendungen sind so fast Schmuggelei!

Ja, so ist es. Aber wir zeigen das manchmal auch. Es gibt Sendungen, in denen die Filmzitate mit Hilfe eines Fernsehers gemacht sind. Im Film über Cronenberg zum Beispiel sieht man seine Filme auf einem Monitor. Das Zitat zitiert zugleich das Mittel dieses Kino-Konsums. Nicht nur ein Ausschnitt im Vollbild, sondern ein Ausschnitt auf einem Monitor, der selbst einen Ort hat. Genau wie wir vorhin sagten, dass der Interviewer auf eine neue Weise in den Film gekommen ist, ist hier auch der Film auf eine Weise in den Raum gekommen. Der Film ist nicht nur ein Sache, die immateriell in der Sendung herumspukt.

Man könnte in diesem Rahmen sagen, dass das Bild wieder Realität wird.

Ja, das Bild kehrt in die Realität zurück. In der Entwicklung von »Cinéma, de notre temps« sieht man gut, wie am Anfang ein Film einen anderen Film anschaute. Das Fernsehen, dass dem Kino zugeschaut hat. Und Stück für Stück kehrt das Kino in das Innere der Dinge zurück, die man für das Fernsehen gefilmt hat. Es gibt dort eine Evolution, eine Bewusstwerdung davon, was passiert.

Das Portrait von Bernadette Lafont war das erste Portrait einer Schauspielerin. Sonst arbeiten Sie hauptsächlich über Regisseure, Autoren?

Ich habe einige kürzere Arbeiten über Schauspielerinnen gemacht. Arbeiten von 10 Minuten Länge. Die Arbeit über Bernadette Lafont war das erste Mal, dass wir etwas Langes gemacht haben. Der Produzent wollte einen Film über Bernadette machen und Sie hat dann vorgeschlaten, dass ich diesen realisiere.

Interessiert sie auch zum Beispiel über einen Cutter zu arbeiten? Ich denke z.B. an den Film von Pedro Costa über die Straubs, der zeigt, wie sie »Sicilia« schneiden.

Jemand, der während der Arbeit gefilmt wird. Allerdings in dem Fall nicht die Aufnahme von Dreharbeiten. Denn hier sieht man die Momente der Wahl, man sieht die Entscheidungen. Bei Dreharbeiten dagegen setzt man etwas in Aktion, in Bewegung, die Entscheidungen sind normalerweise bereits getroffen.

Auf diese Weise könnte man ein Portrait von Yann Dedet machen, das zeigt, wie er einen Film wie diesen schneidet. Das wäre interessant. Ich kenne ein kleines Stück über »Vierzig Gewehre« von Samuel Fuller, wo Dedet den Film so anschaut, hin- und herspult etc. Da ist ein filmanalytisches Interesse, doch trotzdem wird einem auch klar, dass das ein echtes Portrait eines Cinéphilen ist. Dedet schaut das Bild zum x-ten Mal an, trotzdem entdeckt er immer wieder etwas Außergewöhnliches. Etwas, was er niemals vorher gesehen hatte. Das ist auch in Ihren Sendungen so. Es gibt immer etwas, was passiert, was sich herstellt.

Ja , ich habe auf diese Weise eine Serie von Filmen über Regisseure gemacht, für »Cinéma Cinémas». Über Antonioni, Kazan, Skolimowski, Fuller und andere. Man sieht sie Filme anschauen und auf sie reagieren. Sie kommentieren die Filme auch, aber der Kommentar kommt nach der Aufnahme. Zur letzten Szene von Bonnie und Clyde zum Beispiel erklärt Arthur Penn, wie er warum er einen bestimmten Typ von Kamera benutzt hat. Das ist alles sehr interessant, und außerdem bekommt man Lust, noch weiter zu gehen. Ich mag das gerne, weil dort ein Kontakt entsteht, weil es eine Beziehung gibt, etwas Physisches. Der Film sind alle in einer Einstellung in einem Zimmer aufgenommen. Eine Strecke, die dann später geschnitten wird. Das hat etwas sehr konkretes. Keine Schuss-Gegenschuss-Montage wie bei Hitchcock. Mit Hitchcock wollte ich das übrigens auch über die Montage einer Sequenz machen. Aber Hitchcock kennt seine Filme sowieso auswendig. Wir haben seine Filme Einstellung für Einstellung angeschaut, und er hat die Einstellungen dann einzeln beschrieben. Davon haben wir dann einige Sequenzen ausgewählt.

Das ist der »pädagogische« Aspekt der verschiedenen Sendungen. Aber das ist nicht der determinierende Aspekt. Die Pädagogik ist ein Aspekt, aber nicht der, auf den alles hinausläuft. Es gibt einen überhaupt nicht pädagogischen Akzent.

Manchmal versucht man sogar alles zu vermeiden, was man »informierend« nennen könnte, also alles, was man in Büchern nachlesen kann. Man richtet sich nicht an die Leute, die nichts vom Kino wissen, um ihnen zu sagen: Schaut!, da habt Ihr einen Autor, er hat 18 Filme gemacht, und dann zählt man sie auf und so weiter usf. Nein. Wenn sie das interessiert, dann gibt es dafür Bücher, die sehr viel vollständiger sind. Um das Äquivalent eines Buchs in einem Film unterzubringen, bräuchte man 20 Stunden. Ein Buch ist präzise, aber eine Domäne, bei der man die Mittel des Kinos nicht benötigt. Das Kino hat dort seine Wirkungen, wo man ein Gesicht zeigt, wo man zeigt, wie jemand sich ausdrückt. Wenn man dort einen Begriff verwendet – sagen wir den Begriff »mise en scène« –: Wird die Person das plump finden? Was wird sie sagen? Wie reagieren?

Das ist es. Das Zeigen. Was man in einem Bild so alles hat, das ist großartig. Man sieht jemanden, der dabei istm zu sprechen, innehält, 30 Sekunden, in welchen er nach links schaut, nach rechts schaut, und so weiter. Im Fernsehen wird das niemals gezeigt, ich mag aber genau das. Weil dort enorm viel passiert. Und nicht nur das, man kann auch viele andere Dinge passieren lassen. Wenn z.B. der Regisseur von einem Films spricht, den er vor 30 Jahren gemacht hat, plötzlich stoppt, und dann weiterspricht – und dann schneidet man einen Schatten des Filmes dort hinein, so als gäbe es plötzlich ein geistiges Bild des Films, das er in diesem Moment sieht, dann versteht man etwas, man versteht den Bezug, den er zu seinem Werk hat. Und man interpretiert die Stille.

Ich habe gelesen, dass Sie in den Transskriptionen, die sie erstellen lassen, all das aufschreiben lassen, die Stille, die Geräusche. Danach hat man wirklich eine Art Partitur.

Aber ja, genau das ist es. Ich liebe diese Blicke nach links und rechts, wenn ich das sehe, sehe ich einen Film. Es gibt ein unglaubliches Beispiel: In dem Film über Hitchcock zum Beispiel spricht er gerade über seine Figuren. Wir filmen ihn in seinem Büro in Los Angeles, bei Universal, er spricht über das Verhältnis von Drehbuch und der Art und Weise, es zu filmen. Dann kommt seine Sekretärin herein, er schaut hin, spricht weiter, schaut noch einmal. Schließlich schaut er sehr bedächtig. Und genau in diesen Moment habe wir im Schnitt eine Einstellung des Detektivs aus Psycho montiert, der vorsichtig in einen Raum tritt. Dann Schnitt zurück auf Hitchcock, und er nimmt den Satz wieder auf, dann, ein kleines Stück weiter, sagt Hitchcock: »… zum Beispiel in Psycho.» Das ist eine mise-en-scène in der Montage.

Ein Subtext, oder etwas, was während des Interviews schon da war.

Indem man das analysiert, was passiert, und natürlich die Filme gut kennt. Das war großartig. Man hat den Eindruck, dass er die Szene aus Psycho wirklich in dem Moment sah – und alles ohne Schnitt, ohne Trickserei, ohne Täuschung. Man hat nichts aus dem Original-Interview herausgenommen und trotzdem passiert etwas viel stärkeres, das einen Austausch unterhält über den Raum, und Hitchcock, der sich anschaut, was vor sich geht. Es ist ein Spiel der Einflüsse. Es war, als wäre der Detektiv eingetreten, und Hitchcock die Idee gab, von ihm zu sprechen.

Aber das entsteht nur über die unerlässliche Arbeit der Analyse der Momente, die man auf Film hat. Alles, was man gedreht hat, ist im endgültigen Film. Wir haben zwei Stunden mit Hitchcock verbracht, das ist alles.

Eine Frage, die ich für unvermeidbar halte: Wie bereiten Sie diese Art von Interviews vor?

Die Interviews sind nicht so sehr vorbereitet. Im Fall von Hitchcock haben wir den Termin sechs oder acht Monate früher gemacht. Wir haben dann die ganze Zeit über nicht mehr miteinander kommuniziert. Dann waren wir in Los Angeles und sind zu ihm gegangen sind. Da habe ich noch gescherzt: Vielleicht hat er den Termin vergessen. Aber er war da und hat uns erwartet. Eine Verabredung ist eine Verabredung.

Es gab damals bereits das Buch von Truffaut über Hitchcock, und wir dachten uns, es wäre gut, wenn man in etwa die gleiche Arbeit macht, also über ein oder zwei ausgewählte Sequenzen spricht. Also haben wir das gemacht. Wir wussten, dass es plötzlich Bilder geben würde, die sich ergeben, die auftauchen. So wie in dem Buch von Truffaut. Aber es gab auch eine Sache mehr, die auch von der Analyse her kommt. Während Hitchcock spricht, kommentiert, bedächtig erklärt, gestikuliert er auch mit den Armen. Er versichert sich in jedem Augenblick, dass er verstanden wird. Dazwischen setzten wir Stille, aber die Stille gab es nicht wirklich. Denn während wir gefilmt haben, gab es eine parallele Übersetzung. Nur haben wir diese Übersetzung herausgeschnitten und so die Stille hergestellt, die es eigentlich in der Situation nicht gab. Und diese Stille hat Hitchcock zum Pädagogen gemacht. Im Film wartet er, das man ihn verstanden hat, und spricht dann weiter – nur das er in Wirklichkeit darauf gewartet hat, übersetzt geworden zu sein.

Aber genau dort ist dann eine Vermittlungsarbeit, wobei die Übersetzung ja auch eine Form der Vermittlung ist. Eine Form der Vermittlung wird durch eine andere ersetzt.

Ja, das eine durch das andere ersetzen.

Ein Transfer, bei dem es nicht notwendig ist, die Stimme der Übersetzerin zu hören. Die Stille ist das bessere Bild für den Transfer, den pädagogischen Transfer, wie Sie es nannten.

Wir benutzten Untertitel. Typisch für das Fernsehen wäre, die gesprochene Übersetzung zu verwenden. Die Übersetzung nicht zu verwenden und das Bild nicht zu schneiden, die Übersetzerin durch Stille zu ersetzen, das war dagegen eine Interpretation des Verhaltens von Hitchcock. Wir haben ihm damit eine pädagogische Kraft gegeben. Diese pädagogische Kraft hat er mehr oder weniger von sich aus, aber wir haben sie damit hervorgehoben.

Also wählten sie eine bestimmte Zeitökonomie, die sicher nicht die des Fernsehens ist. Denn normalerweise werden genau diese Dinge herausgeschnitten, unter der Begründung, Zeit zu sparen, um stattdessen »von noch mehr sprechen zu können».

Wenn man Fernsehen macht, sitzt man gegenüber dem Monitor. Man versucht, das Maximum an Elementen unterzubringen, alles Material, das man hat, und gleichzeitig nicht zu übersetzen, was man vermitteln will. Ich bin auch ein Zuschauer, also bin ich alle Zuschauer. … Ich wüsste nicht, wie man das anders machen sollte. Das Geheimnis des Kinos besteht darin, dass der Regisseur in einem bestimmten Moment die Seiten wechseln muss, er muss sich auf die Seite des Zuschauer begeben. Auf die Seite der Wirkungen. Dann das ist ja, was er herstellt, Wirkungen, Effekte. Ich mache eine Einstellung, selbst wenn ich wer-weiß-nicht-wie filme, ich stelle etwas her, das eine Wirkung hat. Diesen Effekt kann man kontrollieren, man ist verpflichtet, die Position des Zuschauers einzunehmen.

Aber das ist schwierig, weil man auch ein Stück der Produktion vergessen muss.

Man muss die Absichten vergessen, alles, was man vorhatte. Das ist der große Feind des Kinos. Es gibt sogar zwei Feinde des Kinos. Der eine ist das Vorplanen. Für das Kino ist es schrecklich, wenn man das verfolgt, was man vorher geplant hat, selbst auf technischer Ebene. Wenn ich einen Zoom auf die Kaffeemaschine sehe, dann bin ich als Zuschauer lange vor der Kamera am Ende des Zooms angelangt. Also ist das Kino, der Film, immer zu spät dran im Verhältnis zu mir, dem Zuschauer. Ich werde also nicht überrascht sein. Das ist das Problem aller Travellings. Man kann eine Kamerafahrt machen, um zur Kaffeemaschine zu kommen. Aber so würde ich das nicht machen. Ich würde auf die Kaffeemaschine zu steuern und, schwupp!, im letzten Moment eine Wendung einbauen, um eine Überraschung herzustellen.

Wie unterhalten Sie sich mit Ihrem Kameramann bei Ihren Drehs?

Das passiert alles einfach. Ich arbeite nur mit Leuten, die ich gut kenne, sonst ist die Arbeit sehr schwierig. Ich spreche ständig mit dem Kameramann, weil ich viel improvisiere, auch innerhalb einer Einstellung. Im Film über Cronenberg zum Beispiel: Um Szenen zu zeigen, hatte ich Monitore aufgebaut, auf denen die Filme von Cronenberg liefen. Wir haben uns ständig bewegt, also habe ich immer mit dem Kameraman gesprochen, um innerhalb dieser Einstellung improvisieren zu können. Wir haben auf Film gedreht, also hatten wir jeweils 10 Minuten Autonomie, in denen ich machen konnte, was ich wollte. Wenn es etwas gab, das funktionierte, habe ich es passieren lassen, wenn ich etwas Interessantes auf einem der Monitore sah, habe ich dem Kameramann gesagt, das zu filmen und dann hinter Cronenberg anzukommen – alles während Cronenberg weitersprach. Das entsprach überhaupt nicht einer vorgegebenen Szenenauflösung. Vor Szenenauflösungen habe ich eh einen Horror – gut, ausgenommen die drei Einstellung draußen. Also Situationen von Lebendigem, wie im Leben. Man muss auch beim Filmen versuchen, zu leben.

Wer hat dort die Fragen gestellt, waren das auch Sie oder jemand anderes?

Nein, das war ein Freund von Cronenberg. Manchmal habe auch ich Fragen gestellt. Aber wenn ich das Gespräch führe, habe ich weniger Freiheit, zu intervenieren. Das ist also unterschiedlich. Den Film über Rohmer zum Beispiel habe ich zusammen mit Douchet gemacht, um mich um die Kamera kümmern zu können, um innerhalb der Situation eingreifen zu können. Das ändert sich also, hängt von der Situtation ab und der Komplexität des Drehs. Und da ich nicht besonders viele vorgefertigte Hinweise habe, muss ich auch einfach anwesend sein.

Wir experimentieren auch mit vielen Dingen, zum Beispiel, was die Kamerafahrten und das Verhältnis zum Kameraman angeht. Als wir den Film über Forsythes gemacht haben, filmten wir in einem großen Tanzstudio in New York. Das Studio war immens groß. Wir haben Fahrten und Kurven von etwa 50 Metern gemacht,. Schließlich gab es einen Moment mit Forsythes ganz am anderen Ende des Studios. Er arbeitete mit den Tänzerinnen des New York City Ballett. Er war in diesem Moment weit entfernt. Ich hatte Forsythes gefragt, ob es in Ordnung sei, wenn ich keine Fragen stellen würde und er sich stattdessen umdrehe und zur Kamera spreche, wenn er etwas zu erklären habe. Er war einverstanden. Erster Drehtag, erste Einstellung: Es gab da ein großes Pendel und wir mussten uns ziemlich anstregen, das nicht vor die Kamera zu bekommen. Aber dadurch hatten wir schon mal ein vorgegebenes Tempo. Dann haben wir uns in einer Kamerafahrt nach vorne bewegt, während der Fahrt habe ich nicht gesprochen, wir rollen über die Schienen, nach vorne, nach vorne, Totale nach links, Totale zu den Tänzerinnen, weiter so mit der Fahrt, schließlich kommt die Fahrt an, Totale auf die Tänzerinnen, wir kommen zurück auf Forsythes, nähern uns, und in dem Moment, wo wir bei Forsythes ankommen, das ist es Forsythes selbst, der sich zur Kamera dreht und erklärt, was er gerade macht.

Das war großartig, ich dachte mir, wow!, das funktioniert. Da sagt man kein Wort, kommt näher, da sind sie vor der Kamera. Und später, als ich darüber nachgedacht hatte, war klar, es war gar nicht so, dass es keine Fragen gab, sondern die Bewegung der Kamera hat die Frage ersetzt. Soll heißen, der Moment, in dem die Kamera bei ihm ankam, das war, als hättest du gesagt, »also…«. Es gab kein einziges Wort. Das war genial.

So haben wir dann weitergemacht. Auch mit Scorsese gab es keine Fragen. Am ersten Tag, wir hatten schon eine Weile gefilmt, fragte er: Stellst du keine Fragen? Ich sage: Nein. Wenn du etwas sagen willst – da ist die Kamera, da ist der Ton. Ab dem nächsten Tag hat er dann die Entscheidungen getroffen, er hat begonnen, sich an die Kamera zu richten, sich an uns zu richten. Während des ganzen Drehs gab es nicht eine einzige Frage. Einmal sagt er: Los, ich nehme euch mit zu meinen Eltern, und ich antworte: Einverstanden, auf geht’s.

(Das Gespräch führten Volker Pantenburg, Stefan Pethke und Erik Stein, Übersetzung: Erik Stein)