Filmvermittlung und frühes Kino

Ausgang / Einfahrt
Peter Tscherkasskys Rückkehr zu Lumière

Von Volker Pantenburg

Sich in einem Film auf Lumière zu beziehen oder einen ihrer Filme aneignend, transformierend, wiederholend aufzugreifen, kann unterschiedliche Motive haben. Es kann eine Rückkehr zur vermeintlichen Geburtsstunde des Mediums ›Kino‹ anzeigen (aber als Nachfahre unterschiedlicher Kulturtechniken und Medien kennt das Kino zahlreiche verschiedene Geburtsstunden), es kann für einen Blick auf sehr einfache Formen der Erzählung mit Bewegtbildern stehen oder im Durchblick durch das Medium auf das, was es abbildet, einen historisch und sozialgeschichtlich interessierten Blick erlauben; Film als neuer Modus der Repräsentation, als Öffnung hin zu neuen Formen der Erzählung, als zeithistorisches Dokument.

Der Österreicher Peter Tscherkassky hat sich in seinen Filmen zweimal ausdrücklich auf Filme der Lumière-Brüder bezogen. Im kurzen Motion Picture (La sortie des ouvriers à l'usine Lumière) von 1984 und im ersten Teil seiner »CinemaScope-Trilogie«, der den Titel L’Arrivée (1997-98) trägt. Beide Filme sind – wie die meisten Arbeiten aus dem Avantgarde-/Experimental-/Kunstzusammenhang – kaum auf den ersten Blick als didaktische Unternehmungen identifizierbar; kein Kommentar, keine diskursive Aufbereitung. Stattdessen eine sehr unmittelbare Verwendung, Benutzung, Verfremdung des Filmmaterials: 16mm-Material im Falle von Motion Picture, 35mm-CinemaScope im Falle von L’Arrivée. Übersetzt man den Begriff »Vermittlung« jedoch als Medialität, so ist Tscherkasskys Umgang mit dem Filmmaterial – überspitzt gesagt: im unmittelbaren Sinne – vermittelnd, indem er mit dem Celluloid arbeitet, statt es unter das Regiment des gesprochenen oder geschriebenen Worts zu zwingen.

[1]»Der Schaltkreis ›Avantgarde und frühes Kino‹ zählt heute zu den lebendigsten Revieren der Kunst und Kunstreflexion.« (Alexander Horwath: Singing in the Rain. Superkinematografie von Peter Tscherkassky, in: Alexander Horwath / Michael Loebenstein (Hg.): Peter Tscherkassky, Wien: Synema 2005, S. 10-48: 39.)

Das macht aufmerksam auf einen breiten und heterogenen Strom des Avantgarde- und Post-Avantgardefilms, der sich – verstärkt seit den 60er Jahren – über den Umgang mit dem filmischen Material definiert und sich durch eine besondere Aufmerksamkeit für die Regeln und Mechanismen des filmischen Apparats auszeichnet. [1] Strukturelle Arbeiten (Peter Kubelka, Kurt Kren), Found Footage-Filme (von Joseph Cornell über Bruce Conner bis hin zu Martin Arnold, Gustav Deutsch oder Matthias Müller), Beispiele eines Expanded Cinéma, das die Vorführsituation selbst zum Gegenstand macht (Peter Weibel, Anthony McCall, Valie Export, Hans Scheugl u.a.). Jeder dieser Zugänge ist unvergleichlich und macht unterschiedliches am Filmemachen und seinen Ergebnissen, den individuellen Filmen, sichtbar. Insofern ist für jeden dieser Filme auch die Frage nach seinem Verhältnis zum Problem der »Vermittlung« neu zu stellen. In Österreich ist – auch bedingt durch den politischen Willen, den Experimentalfilm zum nationalen Anliegen zu machen und entsprechende Förderstrukturen zu etablieren, ein besonders reichhaltiges Feld potentiell »Filmvermittelnder Filme« im Genre des Kunst- und Experimentalfilms zu entdecken .

Motion Picture geht von nur einem Bildkader aus einer der Fassungen des Lumière-Films La Sortie des usines (1895) aus. Die Mediengrenze, an der er operiert, ist methodisch die zwischen Standbild und Bewegtbild, oder in historischer Terminologie: zwischen Fotografie und Film. Durch einen mehrfachen Prozess der Verräumlichung und Verzeitlichung wird aus diesem Einzelbild ein ca. zweiminütiger Film, der in so gut wie nichts seine Herkunft aus dem ikonischen Bild vom Fabriktor verrät, aus dem die Arbeiter herausströmen. »Man kann beim Nachdenken über diesen Vorgang den Verstand verlieren. Oder man kann das Ergebnis hilflos ›schön‹ bzw. ›lächerlich‹ finden – denn der Film selbst, seine Bilder sind praktisch ›nichts‹, sie teilen ihr Geheimnis nicht mit«, hat Alexander Horwath über den Film und das Konzept seiner Entstehung geschrieben.

[2]Peter Tscherkassky: Epilog. Prolog. Autobiographische Notate entlang einer Filmographie, in: Alexander Horwath / Michael Loebenstein (Hg.): Peter Tscherkassky, Wien: Synema 2005, S. 100-160: 131-133.

Tscherkassky selbst beschreibt die Entstehung von Motion Picture rückblickend so: »Diesen Konzeptfilm könnte man als Frucht meiner damaligen Hauptlektüre betrachten. Umberto Ecos Einführung in die Semiotik. Eco isoliert den Hell-Dunkel-Code als grundlegenden fotografischen (und somit auch filmischen) Code, dessen einzelne, isolierte Bestandteile – ähnlich dem Phonem der gesprochenen Sprache – für sich keine Bedeutung tragen. Erst in Kombination mit weiteren solcher bedeutungsloser Partikel können sich verschiedenen fotografische Grauwerte zu sinnhaften Elementen zusammenfügen. Mit Motion Picture wollte ich zu diesen grundlegenden Bausteinen des kinematografischen Illusionsapparates vordringen, sie isolieren und zu einem eigenständigen Film quasi unterhalb des basalen Illusionscodes vernetzen.« [2]

Das funktioniert in vier Schritten: Tscherkassky hängt 50 unbelichtete 16mm-Filmstreifen nebeneinander, so dass sich eine 50 x 80 cm große Fläche ergibt. Anschließend projiziert er darauf den Bildkader aus dem Lumière-Film und belichtet das Filmmaterial damit. In einem dritten Schritt werden die Filmstreifen entwickelt und – viertens – nach der räumlichen Logik des Bildes (von links nach rechts) hintereinander montiert. Was man sieht, wenn der knapp dreiminütige Film projiziert wird, ist ein scheinbar ungeordnete, chaotische Abfolge von hellen und dunklen Zonen, deren Bezug zum Ausgangsbild unklar bleiben muss. Dass es einen solchen Bezug gibt, scheint der Titel des Films zu verbürgen, und auf der DVD-Veröffentlichung ist dem Film eine Ansicht der belichteten und nach dem Motiv des Ausgangsbilds arrangierten Filmmaterial vorangestellt.

[3]Michael Palm: Liebesfilme. Zu einigen Arbeiten von Peter Tscherkassky, in: Alexander Horwath / Lisl Ponger / Gottfried Schlemmer (Hg.): Avantgardefilm. Österreich 1950 bis heute, Wien: Wespennest 1995, S. 255-269. Dieses Zitat auch auf der Netzseite http://www.tscherkassky.at.

Das bildgewordene Rätsel, das Motion Picture eher zu durchdenken als zu entschlüsseln gibt, löst Gedanken über die Prozesse des Stillstellens und Wieder-in-Bewegung-Versetzens aus, die auf dem Weg zwischen den unbelichteten Streifen zum fertigen Film Motion Picture durchlaufen werden: Die Transformation des Bewegtbilds des Lumière-Films in eine projizierte Fotografie und die damit verbundene Verräumlichung. Die erneute Verflüssigung dieses Einzelbildes in die Abfolge des montierten Films; die verschiedenen Formen von Bewegung und hell-dunkel-Abfolgen, die sich daraus ergeben. »Wenn man so will: ein ironischer Kommentar zu jenen filmolinguistischen Überlegungen, die sich auf der Suche nach der kleinsten bedeutungstragenden sprachanalogen Film-Einheit die Zähne ausbeißen.« [3]

Gegenüber der Reduktion auf einen quasi »prä-illusionistischen« Code des Filmbilds in Motion Picture ist L’Arrivée sehr viel gegenständlicher. Allerdings ist hier die Referenz auf die Lumières indirekter. Denn der Zug, den wir sehen, stammt nicht aus dem bekannten Lumière-Film L’Arrivée d'un train à la gare de La Ciotat, er ist nur eine der zahlreichen Ausfertigungen dieses Motivs, das in der Filmgeschichte immer wiederkehrt. Keine Ankunft, sondern eine Wiederholung. Die Einstellungen stammen aus dem Film Mayerling (1969) von Terence Young, zu sehen ist die Einfahrt eines Zugs in den Wiener Bahnhof. Nachdem der Zug zum Halt gekommen ist, steigt eine Frau (Catherine Deneuve) aus und wird am Bahnsteig von einem Mann empfangen. Sie umarmen sich. Als sie sich küssen, ist der Film aus.

Sieht man L’Arrivée, wird man Schwierigkeiten haben, dieser einfachen Handlungszelle zu folgen. Denn was Tscherkassky durch einen Prozess vielfachen Umkopierens, Spiegelns und Bearbeitens des Filmmaterials in erster Linie inszeniert, ist der Kampf, der zwischen dem Filmmaterial selbst und dem auf ihm gespeicherten Plot stattfindet. Zwar sehen wir nach zahlreichen Störgeräuschen und nachdem sich zwei Filmstreifen mit einiger Kraft von den Seiten aus in die Mitte des Filmbildes vorgekämpft haben, einen Zug, der in einen Bahnhof einfährt. Aber prominenter sind die gemeinhin unsichtbaren Rahmenbedingungen des Filmbildes, die hier lautstark ins Filmbild eindringen: Die Perforation, die wie zwei Gleise von rechts und links nach innen vordringt,

In der Mitte des zweiminütigen Films, kurz nachdem sich die Totale des Bahnhofs für einen Augenblick in der Mitte des Bildes mit ihrer gespiegelten Ansicht zusammengeschlossen hat, kommt es zu einem Schwarzweiß-Gewitter der Störbilder und -geräusche. Teile des Bildes, Materialfehler, die Lichttonspur und die Perforation stürzen wild durcheinander, als sei der Film aus den Gleisbett des Projektors gesprungen. Erst allmählich schält sich das Gesicht von Catherine Deneuve aus dem Chaos des Materials heraus, wie eingezwängt von den Stanzlöchern der Perforation. Dieser zweite Teil des Films folgt einem anderen filmischen Register: Nach der unbewegten Totale von Bahnsteig und einfahrendem Zug ist es jetzt eine Halbtotale, in der wir Catherine Deneuve sehen. Und die Kamera setzt sich, nachdem sie die Bewegung des Zugs unbewegt dokumentierte, nun selbst in Bewegung, um Deneuves Schritte auf dem Bahnsteig zu begleiten.

Implizit gerät damit ein zweiter filmhistorischer Zeitpunkt in den Blick: Der Übergang von der Lumièreschen »Ansicht« (der einfahrende Zug, Ikone des Kinos der Attraktionen) hin zu einem paradigmatischen Partikel des klassischen Erzählkinos (die Begegnung, die Romantik, der Kuss, der Star).

Literatur

  • Christa Blümlinger: Lumière, der Zug und die Avantgarde, in: Malte Hagener, Johann N. Schmidt, und Michael Wedel (Hg.): Die Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Moderne, Berlin: Bertz + Fischer 2004, S. 27-41.
  • Thomas Elsaesser: Eine Erfindung ohne Zukunft. Thomas A. Edison und die Gebrüder Lumière, in: Ders.: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München: edition text und kritik 2002, S. 47-68.
  • Alexander Horwath: Singing in the Rain. Superkinematografie von Peter Tscherkassky, in: Alexander Horwath / Michael Loebenstein (Hg.): Peter Tscherkassky, Wien: Synema 2005, S. 10-48.
  • Peter Tscherkassky: Epilog. Prolog. Autobiographische Notate entlang einer Filmographie, in: Alexander Horwath / Michael Loebenstein (Hg.): Peter Tscherkassky, Wien: Synema 2005, S. 100-160.

Zahlreiche Texte von und über Peter Tscherkassky auf seiner Netzseite http://www.tscherkassky.at/

Tscherkasskys Film Outer Space, nach L’arrivée der zweite Teil der CinemaScope-Trilogie, wird in der französischen Région Centre als Lehrmittel in Schulen eingesetzt.