Filmvermittlung und Cinéphilie: Alain Bergala

Begeisterte Waisensöhne

Gespräch mit Alain Bergala

Am 12. Juni 2008 trafen sich Volker Pantenburg, Stefan Pethke und Erik Stein mit Alain Bergala. Hier veröffentlichen wir den ersten Teil des Gesprächs, in dem es um die französische Cinephilie geht und darum, in welcher Beziehung sie zur Produktion von filmischen Filmanalysen in Frankreich steht.

Von Jean Douchet stammt eine überraschende Beschreibung der französischen Cinephilie: Er behauptet, diese sehr typische, sehr eigene Form von Cinephilie habe sich nur deshalb entwickeln können, weil der französische Stummfilm keinen großen Regisseur hervorgebracht habe. Eine Art Kompensation.

Das ist wahr, da hat er nicht Unrecht. Auf jeden Fall ein verführerischer Gedanke.

Wie sieht denn Ihre Perspektive auf diese typisch französische Cinephilie aus?

Ich glaube, es handelt sich um ein historisches Phänomen. Am lebendigsten und aktivsten war dabei die Nachkriegsgeneration. Das ist die Meinung von Jean-Louis Schefer, von Serge Daney, von Victor Erice usw. Und ich glaube, sie haben Recht. Das war damals eine Generation von jungen Männern, die ein historisches Problem mit ihren Vätern hatten. Daney zum Beispiel mit seinem amerikanischen Vater, den er nie kennengelernt hat. Die Cinephilie hat sich in eine sehr spezifische geschichtliche Konstellation eingeschrieben, jedenfalls der harte Kern der französischen Cinephilie. Diese bestimmte Generation war äußerst militant in Fragen des guten Geschmacks, sie hatte die Cahiers, das hatte eine historische Tragweite und hat bis heute Spuren hinterlassen, etwa bei den jungen Leuten an der FEMIS oder an den Universitäten. Das bleibt. Die neue Cinephilie sieht anders aus, von einigen Sonderfällen abgesehen. Meines Erachtens ist diese Sache – die ja eine Angelegenheit junger Männer war – heute, in den jüngeren Generationen, viel stärker eine Angelegenheit junger Frauen. Ich habe dafür keine Erklärung, aber ich kann es deutlich an meinen Studenten sehen. Es sind mehrheitlich junge Frauen, die einen mit der alten Cinephilie vergleichbaren Ansatz verfolgen. Die alte Generation suchte den Ausweg aus einer Sackgasse. Deshalb hatten diese Leute Lust auf alles, die wollten alles sehen. Danach kam die Generation von Daney: Leute, die gegen Ende des Krieges geboren wurden.

Es gibt so viele Sendungen aus den 60er Jahren über Jean Renoir – von Jean Eustache und Eric Rohmer, Jacques Rivette mit »Jean Renoir, le patron«. Wie schätzen Sie Renoirs Status zu der Zeit ein? Es scheint, dass er diejenige Vaterfigur war, die am besten zu dieser französischen Cinephilie passte.

Natürlich. Das Problem bestand darin, dass die Nouvelle Vague die logischen Väter ihrer Vorgänger-Generation allesamt abgelehnt hat. Sie sagten: Wir wollen solche Väter nicht. Wir suchen uns welche, die zu uns passen. Also fiel die Wahl auf Renoir. Bresson war eher ein großer Bruder, der taugte nicht zum Vaterersatz. Manche haben sich auch im Ausland nach Vätern umgesehen. Aber Renoir war schon ein echter Vater, der durfte diesen Titel vollkommen zu recht beanspruchen. Wenn man sich Boudu sauvé des eaux anschaut, wird offensichtlich, dass darin schon die gesamte Nouvelle Vague angelegt ist. Der Gedanke war also, die biologischen Verwandschaftsverhältnisse abzulehnen und sich Wahlverwandschaften zu suchen. Ihr seid nicht unsere Väter. Wir suchen uns unsere Väter selber aus.

Werner Herzog sagt für die deutschen Filmemacher Ähnliches. Wenn er von Lotte Eisner spricht, dann sagt er: »Wenigstens hat sie uns unseren Großvater zurückgegeben, Fritz Lang. Unsere Väter waren gar nicht in der Lage, uns zu sagen, was es vor ihnen gab.« Und so wie Sie es von Daney berichtet haben, gibt es auch in der Biographie Herzogs einen abwesenden Vater.

Die ganze Cinephilie ging von Waisensöhnen aus. Selbst wenn der Vater noch lebte. Man wollte Waise sein. Aber es ist interessant zu sehen, was heute daraus geworden ist. Es gibt noch Bernard Eisenschitz, der zwar auch aus der Generation stammt, von der wir gerade sprachen, der aber eher den Standpunkt eines Historikers einnimmt. Er ist einer der ganz wenigen wirklichen Filmhistoriker in Frankreich. Heutzutage erklärt sich jeder für einen Historiker, in Wirklichkeit gibt es nicht besonders viele davon. Er ist ein echter! Wenn Eisenschitz von etwas spricht, dann weiß er wirklich, wovon er redet. Er geht zurück bis zu den Quellen. Das wirkt manchmal ein bisschen streng, aber es ist immer von höchster Qualität. Daneben gibt es Leute, die zwar sympathisch sind, aber auch total bequem, Leute der gepflegten Konversation. Sie setzen sich in einen Sessel und sehen sich die Filme auch nicht noch einmal an, bevor sie darüber sprechen. Sie verwechseln Filmtitel oder reden über Szenen, die gar nicht vorkommen und solche Sachen... Das ist nicht immer mitreißend. Auf der anderen Seite gibt es die Akademiker, die Spezialisten eines bestimmten Werks. Denen sagt man: Bitte sprechen Sie über den und den Film. Da wird es dann manchmal absolut lächerlich. Das sind Leute, die über das Kino arbeiten, aber den Unterschied zwischen schreiben und sprechen nicht kennen. Es gibt da ein Beispiel, das ich meinen Studenten immer zeige, da gibt's dann immer viel zu lachen. Man erkennt die Mühe, die er sich macht, aber man hat gleichzeitig den Eindruck, der Mann hat noch nie einen Film angeguckt. Ein Filmwissenschaftler, wohlgemerkt.

Können Sie seinen Grundirrtum genauer beschreiben?

Wir hatten dem Mann gesagt: Sie haben 12 Minuten. Also packt er alles hinein, was er weiß, eine kleine Doktorarbeit, mit absolut unverständlichen Sätzen. Schriftsprache. Da ging es um Film von Beckett. Das muss man gesehen haben, um es zu glauben.

Kennen Sie die Analysen von Tag Gallagher? Er hat mehrfach mit Kinowelt/Arthaus zusammen gearbeitet, einem der wenigen DVD-Herausgeber in Deutschland, die Bonus-Material herstellen. Gallagher hat viel gemacht zu Ford, Rossellini und Ophüls. Das ist zum Teil sehr wild, aber auch sehr interessant.

Er hat seine Form gefunden.

Ja, genau! Manchmal ist das sogar ein wenig brutal, was er mit dem Bild macht, aber man kann wirklich etwas lernen. Man bekommt auch den deutlichen Eindruck von »Heimarbeit«, denn er macht alles selbst bei sich zuhause. Das sieht manchmal wirklich wie ein Film-Remix aus.

Doch, doch, ich habe etwas von ihm über Rossellini gesehen, in der Cinémathèque Francaise. Aus Anlass seiner Buchpräsentation war er dort hingekommen und hatte etwas über Rossellini gezeigt.

Wie eng ist die Beziehung zwischen der schreibenden Filmkritik und den filmischen Filmanalysen? Zu einer bestimmten Zeit haben doch die Cahiers-Leute solche Analysen erstellt?

Naja, da wurde eher auf die plakative Wirkung gesetzt. Wenn Gaumont die Godards der 60er neu herausbringt, dann haben sie einen Deal mit den Cahiers. Dann darf sich dort jeder Redakteur einen Film aussuchen. Das ist einfach und bequem, aber da kommen natürlich nicht immer Leute zusammen, die auch etwas zu sagen haben zu diesem bestimmten Film. Das basiert auf einer Übereinkunft zwischen Canal und den Cahiers. Das hat den Charakter von »Einführung in den Film«: Menschen sagen, was sie über einen bestimmten Film denken... Wenn der entsprechende Mensch kompetent ist, geht es. Was Eisenschitz über diesen Film von McCarey gemacht hat, ist sehr gut geworden. Aber selbst Leute, die ich sehr mag, wissen manchmal nichts mit der Aufgabe anzufangen, sie finden keinen Bezug zum Zuschauer am Bildschirm. Dagegen ist Eisenschitz Bonus extrem solide recherchiert, man versteht ganz viel, worauf man von alleine nicht gekommen wäre. McCareys Film ist von 1934, also aus dem Jahr, in dem der »Hays-Code« zu wüten beginnt, das ist also einer der letzten freien Filme und dass das wichtig ist, merkt man auch, wenn man sich den heute wieder anschaut. Das Wissen des Historikers hilft dabei, den Film zu erschließen. Bereits 1935 war ein solcher Film schon nicht mehr möglich, mit seinen sexuellen Anspielungen usw.

Eisenschitz hat ja auch etwas zu Brecht und dessen Zusammenarbeit mit Fritz Lang gemacht, zu »Hangmen also die«. Ich weiß nicht, ob das als Analyse oder als Filmeinführung zu betrachten ist. Oft ist das ja schlecht ausgewiesen. Auf den Hüllen erfährt man nur selten, wer was macht im Bonus-Material. Man hat uns von einer Sendung erzählt namens »plan rapproché« (Naheinstellung), auf dem französischen Ableger des Senders TCM (Turner Classic Movies).

Ja, für die habe ich etwas über Le mépris gemacht. Das ist ganz kurz, drei Minuten, aber der Typ, der das redaktionell betreut hat, ist sehr gut. Man kann nämlich durchaus auch kleine Formen entwickeln. Ich bin nicht dagegen, wenn es gut gemacht ist. Diese Leute machen sehr viele solcher Sendungen, für ihren eigenen Sender. Dort wird jeder Film von einer Einführung begleitet. Das ist kurz, aber sehr seriös. Die bereiten das vor, man spricht darüber, es wird aufgenommen, die schneiden das Gespräch, erst danach werden die Bilder hinzu montiert. Eine ernsthafte Arbeit, begrenzt durch die Möglichkeiten, die man in drei Minuten zur Verfügung hat. Es kann ja auch gut tun, sich einer Spielregel zu unterwerfen. Man kriegt dann mit, dass man auch in drei Minuten interessante Dinge sagen kann. Mit denen würde ich gerne wieder zusammenarbeiten. Allerdings mache ich mir ein wenig Sorgen, weil ich an dem Tag, an dem wir etwas gemacht haben, nicht in Form war.

In Deutschland gibt es ein ähnliches Format, das heißt »Filmtip«, eine Sendung mit Empfehlungscharakter. Dort geht es immer entweder um Neuerscheinungen oder Wiederveröffentlichungen von Filmen. Das ist manchmal auch nur drei Minuten lang. Bisher haben sie ungefähr 350 Sendungen gemacht. Manche dieser Arbeiten bewegen sich an der Grenze zur Werbung. Aber es gibt auch andere Beispiele: Bei seiner Arbeit zu »Scarlet Street« von Fritz Lang hat Werner Dütsch eine Sequenz zusammengestellt aus lauter Standbildern, bei denen es in den englischen Untertiteln um Geld geht. Der begleitende Kommentar ist ziemlich marxistisch - es gibt zwei lange Marx-Zitate -, aber die Wirkung ist erstaunlich. Es wird etwas benannt, das wirklich in dem Film enthalten ist, ihn wesentlich ausmacht. Solche Beispiele sind es, die uns den Anspruch formulieren lassen, dass es sich um ein Genre mit eigenem Existenzrecht handelt. D.h.: Manche dieser Analysen werden selbst zu eigenständigen Filmen.

Absolut. Das kommt von den DVDs. Die Tatsache, dass ein Bonus praktisch obligatorisch geworden ist, hat dazu geführt, dass die Pädagogik plötzlich wieder als wünschenswert empfunden wird. Sie ist aus dem geschlossenen Kreis der Institution herausgetreten. Das ist eine echte Revolution. Mit den besten und den schlimmsten Auswirkungen. Aber erstmal ist es wichtig, dass ein Diskurs über Film überhaupt als wünschenswert empfunden wird.

Jean Douchet vertritt die Auffassung, dass die Ära des Bonus-Materials schon wieder vorbei ist...

Das ist seine etwas snobistische Art, die ihn so etwas sagen lässt. Nein, zwar geht die DVD zurück, nicht aber die Produktion von Bonus-Material. Das kann man ja auch daran sehen, dass man kaum mehr eine DVD kaufen kann, auf der nichts als der Film drauf wäre. Was zurückgeht, ist der DVD-Markt. Im Internet findet man Sachen, aber das ist eine andere Angelegenheit. Beispielsweise diese Leute, die zuhause einen Film neu zusammensetzen. Die machen eine neue Fassung von Fenster zum Hof in ihrer Hochhaussiedlung – auch eine Art, über Filme zu sprechen.

Die Leute von Carlotta scheinen uns eher eine neue Cinéphilie zu repräsentieren: aufgewachsen in den 80er Jahren, mit Filmen von De Palma, Coppola, Ferrara, die aber trotzdem die Beschäftigung mit dem klassischen Erbe pflegen.

Ganz genau. Carlotta ist einer der besten DVD-Herausgeber Frankreichs.

Uns hatte eine Interview-Aussage von Geschäftsführer Boncour erstaunt, wonach es für Carlotta nicht in Frage kommt, einen Film ausschließlich auf DVD herauszubringen, sondern im Gegenteil, einen Film möglichst gleichzeitig im Kino und auf DVD herauszubringen, um verschiedene Arten von Publikum zu finden.

Ich verfolge momentan ein Projekt mit Carlotta über einen in Europa unbekannten Film von 1953. Der Film heißt Little Fugitive, eine wirklich außerordentliche amerikanische Produktion. Ich erfuhr von dem Film, als ich gerade Godard au travail (Godard bei der Arbeit) machte, denn Truffaut, Godard und all die anderen sprachen die ganze Zeit von diesem Film. Ich habe mir die amerikanische DVD besorgt, dann bin ich nach New York geflogen, um die Tochter und Erbin des Regisseurs Morris Engel zu treffen. Ein wirklich außerordentlicher Film! Ich sprach also mit den Carlotta-Leuten darüber und die sagten mir: Wir co-produzieren die DVD und bringen den Film auch ins Kino. Einer der drei Regisseure hatte sich eine 35mm-Kamera selbst gebaut. Es wurde auf der Straße gefilmt – es geht um eine Kindergeschichte –, mitten unter den Menschen, am Strand, das ist eine außerordentliche Arbeit mit den Bildausschnitten und überhaupt. Ich habe also die Tochter aufgesucht, in ihrem winzigen New Yorker Büro. Sie war anfangs misstrauisch, aber nach und nach verstand sie, dass ich ein wirkliches Interesse an dem Film hatte, dass ich ihn wirklich herausbringen wollte. Der war nämlich nie offiziell in Frankreich herausgekommen. Der hatte zwar damals eine Titelseite bei den Cahiers, Bazin hat auch darüber geschrieben, also haben sämtliche Cahiers-Leute den gesehen - nur habe ich nie herausfinden können, wo und wie. Godard schreibt 1962 an den Vater der Erbin: Ich möchte Ihre Kamera kaufen, für wieviel geben Sie sie mir? Denn ich möchte Filme wie Sie drehen. Das war eine Kamera so ähnlich wie die Aaton der 60er Jahre. Die Tochter sagte mir also: Ich muss Ihnen etwas zeigen. Wir sind zurück in ihr Büro, dort lag ein Karton, mit Paketklebeband verschlossen. In einen dicken Stoff gehüllt befand sich darin diese Kamera, konstruiert, um sich frei bewegen zu können. Dieser Film lässt einen viele Dinge in Bezug auf die Nouvelle Vague verstehen. Es geht um einen kleinen Jungen aus einem Armenviertel in New York. Seine Mutter muss für drei Tage zu einem kranken Familienmitglied fahren. Dem großen Bruder und seinen Freunden geht der kleine Junge schnell auf die Nerven. Als sie gemeinsam auf einer Brache mit einem Karabiner spielen, machen sie den Jungen glauben, er habe seinen Bruder. Der Junge rennt davon und verbringt drei Tage in Coney Island. Er muss überleben, muss Geld finden: drei Tage des Umherstreunens durch Coney Island, ein kleiner Junge ganz allein...

Wie alt ist er? 10 Jahre?

Der ist noch kleiner, vielleicht acht. Ein genialer Darsteller! Truffaut wurde nicht müde zu behaupten: Ohne Little Fugitive hätte es niemals Les 400 coups (Sie küssten und sie schlugen ihn) gegeben und auch nicht À bout de souffle (Außer Atem): Es stimmt, dieser Film hat Elemente von beiden. Es gibt die Vorstellung, einen schweren Fehler begangen zu haben und gleichzeitig in den Ferien zu sein (wie bei Belmondo). Aber genauso gibt es einen Bezug, eine Nähe zu Jean-Pierre Léaud. Die Erbin hat sich dermaßen darüber gefreut, dass der Film in Frankreich herauskommen soll, dass sie uns die Rechte für einen sehr, sehr vernünftigen Preis überlassen hat. Ich träume davon, ein Gespräch mit Scorsese über diesen Film zu führen, wenigstens 10 Minuten, denn auch für ihn ist das ein wichtiger Film. Prinzipiell ist er einverstanden, nur hat er nie Zeit.