Filmvermittlung und Cinéphilie: Jean Douchet

Lied der Zweiheit
Zur Filmanalyse »Murnau ou: Qu‘est-ce qu‘un cinéaste?« von Jean Douchet

Sunrise – A song of two humans (dt. Verleihtitel: Sonnenaufgang - Lied von zwei Menschen) war Murnaus erster Hollywood-Film. Er erhielt bei der allerersten Oscar-Preisverleihung 1929 gleich drei Auszeichnungen, darunter eine als Bester Film in der Kategorie Künstlerische Produktion (Unique And Artistic Picture) - Gründe genug, um von einem Klassiker zu sprechen.

Schon der Titel von Douchets Analyse des Films um ein Bauernpaar, dessen Welt von der Verführung des Urbanen bedroht wird, erhebt Vermittlung zum Programm. Nicht etwa, weil er ein Berufsbild zu definieren verspricht, sondern weil die fragende Formulierung auf kanonische pädagogische Literatur in Frankreich insgesamt verweist; auf eine Tradition der Wissensweitergabe, aber eben auch auf eine Haltung, die dem Stellen von Fragen den Vorzug gibt vor dem Proklamieren ewiger Wahrheiten.

In der Geschichte der französischen Cinephilie hat eine ähnlich formulierte Frage frühe Berühmtheit erlangt: »Qu‘est-ce que le cinéma?« (Was ist Kino?) fragte die große Vaterfigur der Nouvelle Vague, André Bazin – so hieß die vierbändige Auswahl seiner Schriften, die zwischen 1958 und 1962 erstmals in Buchform publiziert wurden.

Gerade solch grundsätzlichen Fragen kann man sich nur versuchsweise nähern. Der Essay von Jean Douchet ist in drei Teile gegliedert: Aus einer bereits stark in die Deutung gehenden Einleitung, die Grundthemen fixiert, folgt der Fluss der Gedanken der Chronologie der Filmerzählung. Er tut dies auf eine Weise, die zwischen Interpretation und Buchstäblichkeit liegt, genauer: Douchet erzählt keine Handlung nach, er formuliert Thesen zu Sunrise von der Dualität zwischen Liebe und Sex, Stadt und Land, Tag und Nacht. Sehen + Hören = Verstehen; es geht also um das Verhältnis von auslegender Rede und dem Bild, auf das sich diese Rede bezieht. Wie man höchste Anschaulichkeit im simultanen Zusammenspiel von Analyse und ihrem Gegenstand herstellt, lässt sich sehr gut bei Douchet studieren. Es ist seinem Text anzumerken, dass sich der lyrische Stil direkt aus dem untersuchten Material ableitet. Die Bilder rufen die Sprache hervor, der Weg führt vom Filmbild zum Sprachbild. Einfach ausgedrückt: das Bild Murnaus war vor dem Wort Douchets da.

Nur ein Beispiel unter vielen:

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(»Aber im kitschigen Reigen der blonden Putten tauchen plötzlich dunkle Vorzeichen auf, schwarze Vögel des Unglücks.«)

Nach etwas über 20 Minuten hat die Analyse der Handlungsablauf von Sunrise durchmessen, sind Text und Bilder am Ende des Plots angelangt.

Dann geschieht etwas Eigeartiges: Für eine kurze Sequenz greift die Analyse nicht mehr auf die Bilder des Films zu, sondern macht ihre eigenen. Wie um anzuzeigen, dass es sich in dieser Passage um sehr abstrakte Gedanken, sozusagen um Grundlagen für eine Philosophie des Kinos handelt, animieren sich hier auf sehr minimalistische, Diagramm-artige Weise Schrift und weiße und schwarze Felder. Bilder sind es dennoch, wo doch auch die weißen bzw. schwarzen Rechtecke an eine bekannte Realität des Films erinnert, die jeder Kinogänger schon unzählige Male vor Augen hatte (das Schwarz sogar 25 Mal pro Sekunde): an die zwei Zustände von Leere auf der Leinwand.

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Auch hier könnte die Analyse zuende sein. Aber es folgt noch ein dritter Teil nach, der der vorangegangenen Sequenz eine Scharnierfunktion zuweist: Hier verlässt Douchet die Chronologie, bestimmen einzelne Beobachtungen sein Vorgehen. Man könnte auch sagen: Er unternimmt kurze Ausflüge von Präzisierungen, darin verbinden sich der erste und der zweite Teil. Im Licht der »philosophischen« Ausführungen ließe sich auch von angewandter Theorie sprechen. Vor allem versucht Douchet hier, das Dualitätsprinzip in der Bildkomposition bei Murnau offen zu legen: Das Böse und das Gute haben einen festgelegten Bereich, weist Douchet nach, das Böse in der linken, das Gute in der rechten Bildhälfte.

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Solch binäre Grundstrukturen freizulegen, ohne platt zu wirken, ist sicher Douchets große Stärke, oder besser: Gerade mit Hilfe eines auf den ersten Blick simplifizierenden Erklärungsmusters vermag er, Komplexität aus einem Werk herauszuarbeiten, das mit Stereotypen – der Bauer, die Mutter, das Vamp usw. – hantiert.

Das gelingt Douchet auch deshalb, weil er mit diesem Material auf viele verschiedenen Weisen umgeht. Im Grunde zieht er beinahe sämtliche Register dessen, was filmischer Filmvermittlung heutzutage an Möglichkeiten zur Verfügung steht: Er friert Bilder ein, lässt sie verlangsamt ablaufen, wiederholt sie nacheinander oder in Gesten des Aufgreifens von Themen und Motiven; als er die seiner Auffassung zufolge schönste Bewegung des Kinoapparats in der Filmgeschichte beschreibt, bedient er sich des Split-screen-Verfahrens – und weil er dabei die Endfassung mit einem nicht übernommenen Take vergleicht, macht er ganz nebenbei das Ausmaß seiner vorbereitenden Recherchen deutlich. Auch auf der Textebene setzt Douchet in dieser aufwändigen Analyse auf Methodenvielfalt: Sein Text ist auf drei Stimmen verteilt, jeder Sprecherwechsel markiert einen inhaltlichen Abschnitt. Auffällig ist natürlich auch die Verwendung von Schrift, die nicht nur ihrer Typographie wegen an Godards Schlagwörter-Haikus denken lässt.

Douchets Analyse ist auf DVD erschienen. Sie bietet etwas an, das normalerweise nicht im Kino zu sehen ist, eine Gutschrift, die ursprünglich einen zusätzlichen Kaufanreiz schaffen und weniger zum Nachdenken anregen sollte. Das Produkt könnte aber noch eine ganz andere Botschaft aussenden: Hier ist der Film. Er steht zur Weiterverwendung zur Verfügung. Was man alles damit anstellen kann, wird exemplarisch vorgeführt. Nehmen Sie sich ein Beispiel.

Douchet fragt nicht nach der Kunst, er fragt nach dem Künstler. Ihn interessiert nicht die ganze Gattung, sondern das einzelne Werk. Und trotzdem: Auf die Eingangsfrage gibt es keine Antwort, erst recht keine für alle und immer gültige Definition. Dennoch ist man am Ende dieser Arbeit einen Schritt weitergekommen: Die Frage hat sich in eine Gleichung verwandelt. Murnau ist ein Filmemacher. Soviel steht fest.