Filmvermittlung und Cinéphilie: Jean Douchet

Zur Reihe »Image par image«

Eine meiner ersten bewussten Begegnungen mit dem, was auf diesen Seiten »Filmvermittelnde Filme« genannt wird, hatte ich Anfang der 1990er Jahre in Bielefeld. In der dortigen Stadtbibliothek suchte ich, wenig zuvor von älteren Freunden auf die 1984 eingestellte und 1957 u.a. von Enno Patalas gegründete Zeitschrift Filmkritik dringlich hingewiesen und nun glühender Leser alter Ausgaben derselben geworden, nach mehr von Patalas (und Frieda Grafe). Im Katalog der Bielefelder Stadtbibliothek war unter »Grafe« bzw. »Patalas« neben diversen Monographien, Sammelbänden und Übersetzungen auch eine VHS-Cassette gelistet. Sie stand zur Ausleihe bereit. Ein Film über »M« – Eine Stadt sucht einen Mörder von Fritz Lang»M« von Fritz Lang: eine Filmanalyse –, 1989 herausgegeben vom FWU, Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, deutsche Bearbeitung von Frieda Grafe und Enno Patalas. Wenn ich mich richtig erinnere: eine wuchtige Plastikbox, in der Langs Film auf einer Cassette und die »Analyse« auf einer zweiten gespeichert war. Zwischen den beiden Cassetten lag ein kleines Heftchen mit Texten und filmographischen und sonstigen Informationen. Man konnte diese VHS-Cassetten damals eine Woche lang behalten. Dass dieser Filmvermittelnde Film Teil der Reihe Image par image ist, wusste ich damals nicht. Ich entlieh die Cassette und schob sie am folgenden Tag in meinen Videoplayer.

Unter dem Titel Image par image sind zwischen 1987 und 1989 fünf Video-Analysen gemacht worden. Analysen zu Eisensteins Bronenosets Potyomkin (»Panzerkreuzer Potemkin«), Renoirs La règle du jeu (»Die Spielregel«), Langs »M« – Eine Stadt sucht einen Mörder, Griffiths The Birth of a Nation (»Die Geburt einer Nation«) und Welles' Citizen Kane. Geleitet und konzipiert wurde die Reihe von Jean Douchet, Rahda-Rajen Jaganathen und Makiko Suzuki. Produzenten waren u.a. die Cinématheque française, ein Buchverlag (éditions Hatier), die Pariser Filmhochschule Fémis und der Fernsehsender La Sept (aus dem später arte entstand). Ein großangelegtes Unternehmen; Bildung, Forschung, Schule, Fernsehen, ein Verlag und der Staat hatten sich zusammengetan für die Reihe. Im Gespräch mit Jean Douchet erfährt man ein bisschen mehr über die Hintergründe.

Ich versuche, die ersten Eindrücke zu erinnern, die der Film über Langs »M« Anfang der 1990er Jahre in Bielefeld auf mich machte. Das Kulturfilmsprecherhafte des (deutschen) Off-Sprechers. Sein objektivierend, sachlich, »technischer« Tonfall. Die didaktische Diktion des wissenschaftlichen Auseinandernehmens und schrittweisen Aufbereitens, mit der seelenruhig sich über einen Film hergemacht wird, scheinbar ungerührt von allem Verwirrenden der vielfältigen Eindrücke, die Filme auf mich immer noch zu machen pflegten, dieses zumindest aus Tun und Sprechen der Analyse verbannend. Stattdessen das sich-unbeeindruckt-Geben des eine-Methode-im-Rücken-Habens. Auch hatte das immer wieder Einordnende und ans Methodische Mahnende etwas Vorschreibendes, Vorschrifthaftes. So also geht »Analyse«.

Dies alles war mir nicht neu. Ich kannte diese Form der Aufbereitung von Wissen beispielsweise aus Schulvorführungen von Lehrfilmen. Zugleich war es überraschend. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass »Film« Gegenstand eines solchen Sprechens sein könnte. Doch erweckte diese Überraschung wenig Neugier oder gar Lust, diesen Film, der immerhin 43 Minuten lang ist, weiter anzuschauen. Ich unterbrach das Schauen und hielt mich an diesem Tag an die andere Cassette in der Box, den Film von Lang. Ich kannte ihn damals zwar schon, aber da er nun schon mal da war, guckte ich ihn mir nochmal an… Am anderen Tag unternahm ich einen zweiten Versuch mit der »Analyse«. Darüber bin ich froh.

Bei der Recherche nach »Filmvermittelnden Filmen« habe ich inzwischen zwei weitere Filme aus der Image par image-Reihe sehen können. Der über La règle du jeu findet sich als Bonus-Material der Editions Montparnasse DVD von Renoirs Film. Der Film über Citizen Kane ließ sich in Frankreich als VHS-Cassette auftreiben.

Die Methode von Image par image ist bei allen von mir inzwischen gesehenen Filmen ähnlich. Analysiert wird eine meistens früh im Film vorkommende längere Sequenz. Von dieser Sequenzanalyse aus greifen die Filme zeigend und einholend auf andere Teile des Films aus. Motivketten werden so gebildet, Ähnlichkeiten gefunden, Unterschiede markiert, Besonderheiten und Details hervorgehoben, technische und erzählerische Verfahren erläutert, Stilmerkmale markiert. Aus einer mittelgroßen Einheit (der Sequenz) wird auf nächstgrößere (der »ganze Film«; der »Stil«; die »Interpretation«) oder kleinere (das Bild, der Schnitt, der Dekor, der Ausdruck der Darsteller) ausgegriffen.

Image par image stellt Modellanalysen aus. Es ist nicht so, dass die Filme den Eindruck vermitteln wollen, während ihres Ablaufs etwas zu entdecken. Es sind von ihrer Dramaturgie her keine »Abenteuerfilme«. Was Image par image zeigt, ist zuvor wohlgeordnet worden, nimmt aufeinander Bezug, strukturiert. Es geht über die Auseinandersetzung und Interpretation einzelner kanonischer Filme darum, vom Besonderen des behandelten Films her allgemeine Strukturen und Analysemethoden filmischer Artikulation aufzubereiten. Nicht vorkommen in den »Analysen« von Image par image daher Anekdoten über Schauspieler oder Regisseure; Plakate und Poster; Zooms auf Zeitungsartikel; Vergleiche (in Wort oder Bild) mit anderen Filmen; Interviews und andere audiovisuelle Archivmaterialien. Das, was in Image par image gezeigt wird, kommt ausschließlich aus dem Film, Bild für Bild.

Das, was mich dann sowohl Anfang der 1990er Jahre in Bielefeld beim zweiten Versuch wie auch danach an Image par image faszinierte: Wie das, was gezeigt wird, gezeigt wird. Wie auf nachvollziehbare Weise Methoden vorgestellt werden, mit Bildern zu arbeiten. Und mit welchem Einfallsreichtum diese »Methoden« ausgestellt und inszeniert sind. In einem Text für die österreichische Filmzeitschrift kolik.film haben Volker Pantenburg und ich versucht, das in Beschreibungen über den Film zu »M« zu fassen. Hier zwei kurze Auszüge aus diesem Text:

»Ein anderes Mal in diesem Film gibt es eine weitere Verfahrens-Überraschung. Etwas, was man vorher nicht kannte, etwas Niegesehenes. […] [A]ls zur Mitte dieses Segments vier Bilder aus der einen Einstellung gemacht werden! Wie der filmische Raum dargelegt und erörtert wird mit einem Verfahren, das mich an einen aufgeschlagenen Fächer erinnert.

Und wie das gerade eben etablierte Fächerbild mit dem rotfarben leuchtenden Kameraperspektivsymbol wieder auf seine filmische Bewegtverfasstheit zurückverwiesen wird und dabei dann die zarten Rahmen, die um die einzelnen Bildetappen gefasst waren, einer nach dem anderen verschwinden und der Raum als komponierter sichtbar und das Bild zu einem virtuellen Kompositbild wird. Und wie der Off-Text dazu die Oppositionen eine nach der anderen vergrößert: Kinder – Mütter, Hof – Balkon, Oben – Unten, Kreis – Gerade, Spiel – Arbeit…«

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Image par Image ist voll von Verfahrensüberraschungen solcher Art! Sie alle sind kleine überraschende Entdeckungen, die Sachen, die in Filmen sind, sicht- und vermittelbar machen. Deswegen bin ich froh, den Film damals in Bielefeld Anfang der 1990er Jahre weitergeschaut zu haben. Die mit den o.g. Screenshots dokumentierte Sequenz mit dem »Fächerbild« zum Beispiel, die den räumlichen Zusammenhang der ersten Einstellung des Films von Lang ausstellt, kommt schon kurz nach der »didaktischen« Vorrede, die mich zunächst so nervte.