Filmgeschichte: Tag Gallagher

Die wiedergefundene Zeit
Anmerkungen zu Tag Gallagher

Von Michael Girke

Dem Leser des Bilderforschers Tag Gallagher begegnet ein Kino der alten Meister, ein Kino des Anachronismus mithin. Wobei die Aura des Meisterlichen bei dem Amerikaner Gallagher durchaus nicht die Bedeutung annimmt, die ihr im deutschen Kulturraum lange Zeit anhaftete. Nicht um Werke und Taten von autonom über den Dingen schwebenden Ausnahmemenschen geht es. Vielmehr zeigt Gallagher in immer neuen Anläufen, dass das Kino genau das ist, was es scheint: das Bild auf der Leinwand.

Gallaghers Essays, stets durchglüht, übertragen das Gefühl, das in den Zeiten als man noch auf einen Film von John Ford wartete, ein Hunger nach philosophisch-ästhetischen Lektionen wie nach Erkenntnis der Wirklichkeit im Kino zu befriedigen gewesen sein muss. Weswegen – dies meine Vermutung – Gallagher seinen Anachronismus pflegt, den Blick der verlorenen Zeit bewahren will, bevor das Kino in der Kulturindustrie sich in eine Bewegung der permanenten Selbstauflösungen hinein begab – oder, dies die reaktionäre Reaktionsweise, sich mittels Monumentalität gegen alle Auseinandersetzung zu immunisieren gedachte.

So war es bei den Klassikern. Für Gallagher sind das Regisseure wie John Ford, Roberto Rossellini, Jean Renoir, Carl Theodor Dreyer, Kenji Mizoguchi. Lauter Tote. Ein Kino des Anachronismus, wie gesagt. Ausnahmen von der Regel gibt es, beispielsweise das Lob des zeitgenössischen portugiesischen Filmemachers Pedro Costa. Unverkennbar jedoch besitzen dessen Werke Eigenschaften, welche Erinnerungen an die von Gallagher ansonsten geschätzten Künstler wecken.



Das Massenmedium Kino, behauptet Gallagher, sei eine neue Kunst. Bloß sieht er als neue Kunst Filme von 1950 oder gar von 1932 an.

Im Jahre 1950 war Jean Renoir nach Indien gegangen, um dort The River zu drehen. Über Renoir schrieb Gallagher einen seiner sehr speziellen Essays. Speziell, weil der Anteil der aus den Filmen in den Text übernommenen Originalbilder den des Geschriebenen überwiegt. Geschriebenes, ließe sich sagen, das, um der Kinematographie auf die Spur zu kommen, sich ihr anverwandelt.

Um nun Renoirs Kunst vor Augen zu führen, wählt Gallagher einige Sequenzen aus The River aus, auch jene, in welcher eine Haushälterin zu zwei auf einer Wiese liegenden jungen Mädchen hinzutritt. Eine winziger Moment bloß, wie man ihn – trotz Kinobewunderung – immer wieder als nebensächlich empfindet und so seiner Aufmerksamkeit entgehen lässt. Gallagher zeigt, wie Renoir die Figuren in einer Dreiecksform angeordnet hat. Weswegen die Haushälterin sich auf einer Höhenachse von oben nach unten bewegt, dabei stetig größer werdend, ihren Ort in dem Beziehungsgeflecht nachhaltig verändernd. Ein Umgang mit Bildachsen, wie man ihn schon bei Jeans Vater, dem Maler Auguste Renoir, findet, dazu angetan, höchst subtile Beziehungen zwischen Personen ohne Worte fassbar zu machen.

Das Kino, wie Gallagher es sieht, ist nicht modern im geläufigen Sinne des Wortes, nicht ein Bruch mit dem Alten; es nimmt Formen aus aller traditionellen Kunst – Literatur, Oper, Malerei, Commedia Del Arte – auf und verwandelt diese. Wobei freilich ergänzt werden muss: Die Kinematographie vermag es, solchen Formen mittels Bewegung, Montage, Ton und Kontrapunktik ganz andere Dynamiken und Dimensionen hinzu zugeben und also zu erschließen. Kultur ist zugleich eine Form der Weitergabe und der Verwandlung, was man neu und modern nennt, eine Hinzufügung.

In Liebelei von Max Ophüls – der 1932 entstandenen Verfilmung eines Stoffes des schreibenden Wiener Arztes Artur Schnitzler – geht es um zwei Liebespaare im Österreich der K. u. K. Zeit. Hier nun wiederum weist Gallagher nach, dass dieser Film nicht gleichsam objektiv eine Geschichte erzählt, sondern beinahe jede Einstellung aus den Blickwinkeln der Figuren heraus fotografiert ist, deren jeweilige Gefühlslagen mittels Lichtwirkungen und Tiefenschärfen den Bildern beigemischt worden sind. Jede Einstellung, jede Filmfigur ist eingewoben wie der Part eines Instruments innerhalb einer disharmonischen Partitur, Ophüls’ Film dadurch ein Labyrinth aus Betrachtungsweisen. 1932, zu Zeiten eines frühen Kinos noch, hatte die filmische Erzählung also bereits all ihre Verlässlichkeit und Fraglosigkeit als realistische Wiedergabe der Welt aufgekündigt. Keine Heimatlichkeit will aufkommen in einer Wiener Fremde.

Filmische Einstellungen als points of views – das ist Tag Gallaghers großes Thema, »to materialise« sein am häufigsten benutztes Wort zur Bezeichnung für des Kinos Kunst. Was besagen will, das der Umgang mit Bildachsen und Kameraperspektiven bei Renoir und Ophüls, auch bei John Ford, jeweils einem durch und durch theatralischen Stil entspringt. Es sind Formen, um den Emotionen, dem was in und zwischen den Menschen ist, gerecht zu werden, es zu »materialisieren«, zur Erscheinung bringen, zu verkörpern. »Spiritual life is physical« sagt Gallagher, in dessen Denken Nachwirkungen von Augustinus, Benedetto Croce, Denis De Rougemont und Andre Bazin vernehmbar sind, eine möglicherweise tatsächlich »katholisch« zu nennende Sensitivität.



Man sollte denken, die Ausrichtungen eines Bilderforschers und jene der Schöpfer und Erfinder von Kunstwerken seien gegensätzlich. Allein, mit dem der DVD von Roberto Rossellinis Film Francesco giullare de Dio beigegebenen Videoessay Gallaghers hat es eine andere Bewandtnis. Gallagher folgt den Werken und Taten dieses Franziskus und des um ihn gescharrten Kreises in wiederholenden, die Intensität von Rossellinis Film noch steigernden Szenenfolgen, hängt regelrecht an den Lippen der bei dem italienischen Regisseur auftretenden Menschen aus dem 12. Jahrhundert. Jene zu Assisi waren – in den Augen der Zeitgenossen damals wie heute – Idealisten und Narren gewesen. Allein es waren, was Gallagher betont, Störende, sanfte Sozialrevolutionäre. Jeden Menschen sahen sie als einen Strauchelnden auf einer Reise und gedachten daher allen mit gleicher Aufmerksamkeit und radikaler Freundlichkeit zu begegnen. Der alle herrschenden Institutionen bis heute herausfordernde Gedanke, vor Gott sind alle Menschen gleich, stammt von jenen Mönchen.

Wie kaum sonst jemand ist Tag Gallagher den von ihm untersuchten Filmen treu, stellt er nicht eine von ihm vertretene Wissenschaftsrichtung und Theorie über das Werk, sondern lässt dieses in zahllosen Ausschnitten sich gleichsam selbst zur Geltung bringen. Und doch vermittelt er hier nicht allein Rossellinis Arbeitsweise und Formenverständnis, sondern darüber hinaus durchbricht er die Rolle des objektiven Berichterstatters, zeigt auch die eigene Faszination. In den Fällen des Künstler Rossellini und des Mönches Franziskus hat dieser amerikanische Forscher, so scheint es, zwei Wahlverwandte aus alter europäischer Zeit gefunden, und gar eine Lebenslehre: Die Hölle ist der Blick, der den anderen nicht um seiner selbst willen zur Kenntnis zu nehmen und zu achten vermag. Hierin mag ein Grund dafür zu finden sein, dass Gallaghers Filmessays analytische Intelligenz mit jener immer neu beobachtenden Haltung verbinden, die man das Dichterische nennt.



Im Jahre 2004 schickte Gallagher mir einen Text über John Ford, der für einen Sammelband verfasst war. Es hatte Auseinandersetzungen gegeben und er wollte meine Beurteilung. Die Herausgeber der Schrift gedachten weder derart viele Filmbilder zu drucken, wie Gallagher es für nötig befand, noch Text und Bilder in der von dem Forscher über lange Jahre entwickelten Weise zu choreographieren. Damit wurde der Lincoln-Text seiner Substanz und Funktion beraubt. Weswegen Gallagher ihn schließlich von jeglicher Buchpublikation zurückzog und im Internet publizierte. Die Freiheiten und Möglichkeiten dieses neuen Mediums schätzt er überaus. Den Preis dieser Freiheit – keinerlei Bezahlung für seine Arbeit – nimmt er in Kauf. Als Rentier geht das an.

»Für Menschen wie John Ford und Frank Capra, die in den 1890ern geboren wurden«, schreibt Gallagher in diesem seinem Ford-Essay, »war Lincoln Amerika, ein Teil ihrer selbst, wie Christus«. Woher solche Bedeutung eines Politikers? »Mit anderen Worten, die von Lincoln ›bevorzugte‹ amerikanische Union war nicht die von der Verfassung vorgesehene Union. Es war eine andere Union, welche Lincoln und der Norden im Bürgerkrieg erkämpften und dann in die Verfassung schrieben«. Die Verfassung der Gründerväter von 1776 nämlich hatte einen Makel gehabt, einer wirklich zivilisierten Nation unwürdig: sie gab der Regierung keine rechtliche Handhabe, um die Sklaverei in den neuen Ländern zu beenden. Den in dieser Weise kämpferischen Präsidenten Lincoln verehrte John Ford zutiefst, betrachtete ihn – mit gutem Grund wie deutlich wurde – als eigentlichen Gründer Amerikas. Fords Young Mr. Lincoln vom Jahre 1939 sollte an einen solchen Politiker erinnern. Dass die Sklaverei an keiner Stelle des Films Erwähnung findet, verdankt sich der Zensur, die solche brisanten Inhalte seit Mitte der 1930 Jahre verbot. Solcher geschichtlicher Informationen wegen bedürfen wir Heutigen, bei denen vieles in Vergessenheit gerät, dringend eines solchen Mittlers, um die Bilder wie das Selbstempfinden Amerikas und der Amerikaner besser zu verstehen.

Was Gallaghers Nachdenken regelrecht entzündet, ist eine moralische Frage: wie konnte dieser Lincoln sich anmaßen, darüber zu richten, was richtig und was falsch ist? Wie geht das an, dass er sich in politischen Angelegenheiten stets auf höhere Mächte berief? Wer mag über Richtig und Falsch entscheiden können, zumal in gesamtgesellschaftlichen Situationen? Fragen über Fragen. Zu entgehen ist ihnen, auch wenn jegliche Beantwortung außerhalb der von wissenschaftlicher Methodik erfassbaren Normbereiche liegt, jedoch nicht. John Ford wie dann auch Tag Gallagher bemessen den Präsidenten Lincoln allein an seinem Verhalten und Handeln, an dem, was er an Veränderung der amerikanischen Wirklichkeit bewirkte: Gleichstellung und Bürgerrechte für die Menschen, die einmal Sklaven sein mussten.

Solches im Jahre 2004 zu schreiben, bedeutete auch einen massiven Protest gegenüber dem damals amtierenden Präsidenten. Denn dieser George Walker Bush, welcher sich ebenfalls stets auf höheres Mächte zu berufen pflegte, hob – mit John Fords Augen gesehen – die zivilisierte und rechtlich garantierte Gleichstellung und Gleichbehandlung aller Menschen auf, konnte also als Verräter an der amerikanischen Tradition betrachtet werden. Was wiederum besagt: Die heftigsten Amerikakritiker sind nicht gegen Amerika, sondern sind gerade jene, die sich als Bürger mit der amerikanischen Geschichte und Kultur tief verbunden fühlen, die versunkene historische Erfahrungen bewusst halten, aus der zerstörerischen Geschichte lernen wollen, Widerstände dagegen ausbilden.

Und so erinnert Tag Gallaghers Umgang mit Kinobildern an die Auffassung, welche der 1933 vor den Nazis aus Deutschland geflohene Religionsphilosoph Paul Tillich von Symbolen hat. Symbole, schreibt Tillich, seien nicht einfach »willkürliche« Zeichen, auch nicht bloße Phantasien, sondern sie hätten zutiefst mit dem zu tun, was die Menschen unbedingt angeht, mit ihrer konkreten seelischen wie gesellschaftlichen Situation. In eben diesem Sinne erforscht Tag Gallagher nicht allein Filmformen, sondern Zusammenhänge, hat er ein großes Interesse an den Bildermachern, an der Zeit, in der Werke entstehen. Was in der Filmforschung und Filmkritik nicht allgemein üblich zu sein pflegt.

John Fords Young Mr. Lincoln aus dem Jahr 1939, das ist ein heute wahrlich alt gewordener Film, eine Geschichte vom 19. Jahrhundert zudem. Wiederum ein Anachronismus. Allein, der einfache Bürger Lincoln aus tiefster Provinz beim intensiven und fortgesetzten Studium uralter Schriften und Gesetzbücher, das ist ein Mensch, welcher Geschichte nicht als über Menschen verhängtes, nicht zu änderndes Schicksal akzeptiert, ein Bild eines notwendigen kritischen Aufklärens also. Eines der vielen von John Ford hinterlassenen Bilder, die auch im neuen Jahrhundert bedenkenswert geblieben sind.



Zum Schluss sei noch eine persönliche Begebenheit berichtet. Als ich, ebenfalls im Jahr 2004, eine Würdigung John Fords veröffentlichte, gab es darin folgendes zu lesen:

»Wo die Filme von Howard Hawks geradezu besessen sind von Geschwindigkeit, da ist die neue Welt bei John Ford auch Chiffre einer Krise. Menschen, die ewig unterwegs sind, haben im Fordfilm deutlich etwas Krankes. Sie sind ruhe- und bodenlos, nicht nur bereit, sondern süchtig danach, einen neuen Ort oder eine neue Sache auszuprobieren und mit dem Alten total zu brechen. Wo Hawks’ Figuren über die Tode anderer ungerührt hinweggehen, da gräbt sich die Gewalt bei Ford in Seelen und Körper ein und verändert die Landschaft. Gewalt überschattet den Weg und den Geist des Westens. Wie aus gesetzloser Gewalt legitime Gewalt wird, die ihren Opfer produzierenden, zerstörerischen Charakter beibehält, ist sein ständiges Thema. Dass Ford seine historischen Erfahrungen als Angehöriger einer gettoisierten irischen Minderheit und als Weltkriegsteilnehmer, das reale Grauen seines 20. Jahrhunderts, in seine Bildlogik transformiert, das macht seine Filme existentiell und berührend, während man Arbeiten von Hawks – oder auch Hitchcocks – betrachten kann wie technische Bravourstücke von Ingenieuren«.

Dies hätte nicht geschrieben können, ohne meinen intensiven Austausch mit Tag Gallagher. Er ist ein großer Bilderforscher, gewiss, vor allem aber versteht er es, dem vielfach beschädigten Wort Lehrer seine eigentlich schöne und wichtige Bedeutung zurückzugeben. So wie der Dichter Ludwig Hohl es beschreibt: »Geistige Ereignisse: nicht Resultate, sondern Weg! Wer würde es der Jugend sagen können, dass das Lernen – und das lernen Lernen! – alles ist – nicht das Gelernte?«