Filmvermittelnde Experimentalfilme

Zwei Filme zu Eadweard Muybridge

Ein Gespräch über Thom Andersens und Gabór Bódys Filme zu Eadweard Muybridge

Thom Andersens Film Eadweard Muybridge, Zoopraxographer (USA 1974) ist eine historische Rekonstruktion der Arbeit Muybridges, sowohl als Landschaftsfotograf als auch als Experimentator und Erfinder des Zoopraxographs, mit dem seit den 1870ern Phasenfotografien so projiziert werden konnten, dass ein flüssiger Bewegungsablauf sichtbar wurde. Andersen zeigt Dokumente – Fotos, Tabellen aus Muybridges Animal Locomotion (1887), immer wieder Serienbilder – und lässt aus dem Off die Geschichte Muybridges erzählen. Aus dem historischen Rahmen springt er nur zweimal heraus: zu Beginn mit einem Mao-Zitat (»Man’s knowledge of matter / is knowledge / of its forms of motion / because there is nothing / in this world / except matter in motion / and this motion must / assume certain forms.«) und am Ende mit der Reinszenierung des Kusses zweier Frauen, ein Motiv, wie es auch Muybridge fotografiert hatte.

Gabór Bódys 18 minütige Videoarbeit The ... human figure in motion ... Homage to Eadweard Muybridge. 1880-1980 (Ungarn 1980) ist zweigeteilt. Zunächst animiert Bódy mit Videotechnik einige von Muybridges Bildern, dann unterzieht er sie einer Transformation innerhalb einer experimentellen, bisweilen an eine Bühnensituation erinnernde Anordnung. Der Film arbeitet dabei, anders als der von Thom Andersen, nicht mit einem gesprochenen Kommentar, sondern allein mit elektronischer Musik. [1]

[1]Ein Auszug aus Bódys Video hier.

Stefan Pethke Mit Mao anzufangen, sieht von heute aus betrachtet wie ein gelehrter Scherz aus. Aber der Schönheit des Satzes von der Materie in Bewegung tut das keinen Abbruch, hoffentlich auch damals (bei ernsthafter Lektüre) nicht.

Volker Pantenburg Den einzigen Sprung in die Gegenwart (neben Mao) macht Andersen am Ende durch die Reinszenierung des Frauenkusses vor dem Raster - das ist bunt und deutlich erkennbar als die 1970er Jahre. Da sind wir schon nah dran an den Re-Enactments, die Gabór Bódy in The ... human figure in motion ... vornimmt. Aber bei Andersen, der zu Beginn der 1970er im Kontext der jüngeren US-Experimentalfilmer steht (Morgan Fisher hat am Muybridge-Film mitgearbeitet), sind es eher die Flicker-Filme von Paul Sharits und anderen, die Pate gestanden haben. Diese (auch manchmal aggressive) Lust daran, mit dem physiologischen Handicap der Trägheit des Auges zu experimentieren, wie Sharits das in Epileptic Seizure Comparison macht. Muybridge macht quasi präfilmische Flickerfilme.

Michael Baute Der Film von Bódy ist für mich nicht viel mehr als Propaganda für Video.

Stefanie Schlüter Den Anfang von Gabór Bódys Videoarbeit würde ich gern in Schutz nehmen – allerdings nur den Anfang: Wie er da die aus verschiedenen Aufnahmewinkeln fotografierten Fotos animiert und wiederum in Einzelframes zerlegt. Nach dem andauernden Off-Kommentar von Andersen war ich heilfroh, einfach mal nur hingucken zu dürfen. Zwar ist der Kommentar bei Andersen informativ, aber ich war eigentlich mehr damit beschäftigt, die Daten zu verarbeiten, als die Bilder anzuschauen.

Volker Pantenburg Bei Andersen gibt es einmal sinngemäß das Stichwort »monumental scope and encyclopedic proportions«, um Muybridges Projekt zu charakterisieren. Das ist eins der Interessen von Andersen: Er zeigt Muybridge als etwas exzentrischen Loner, der zwar medienhistorisch auf verlorenem Posten steht, aber dafür sehr entschieden agiert.

Michael Baute Eine Passage aus dem Film von Andersen. Wo er klar macht, dass Muybridge die Fotografien nie so gesehen hat, wie Andersens Film sie zu zeigen imstande ist. Dadrin auch die von Dir angesprochene Verlorenheit Muybridges, in der Filmgeschichte, in der Wissenschaftsgeschichte, in der Menschheitsgeschichte. In der von Virgilio Tosi gemachten Filmreihe The Origins of Scientific Cimematograpy wird die Geschichte Muybridges anders erzählt. Tosis Film ist einerseits sowieso technikgeschichtlicher orientiert als der von Thom Andersen, andererseits nimmt er doch auch Muybridges Anbindung an frühe kommerzielle Praktiken, mit denen die Vorformen des Kinos auf den Markt gebracht wurden, in den Blick. Es gibt bereits Spuren von Inszenierungen in Muybridges’ Filmen, und auch, trotz all der Vermessungsinsistenz, die Schaulust auf (oft) weibliche Körper.

Volker Pantenburg Daran meint man den gegenkulturellen Drive der frühen 1970er-Jahre gut zu erkennen: Muybridge ist jemand, der gegen die viktorianische Moral »im Dienste der Wissenschaft« andauernd Nackte filmt. Das Wort »subversiv« fällt einmal ausdrücklich. Ich frage mich, wie man Muybrigdes Bilder – gerade in ihrer Anordnung durch Andersen – Anfang der 1970er Jahre gesehen hat: Entdeckte man in ihnen den Serialismus, der kunstgeschichtlich kurz vorher durch die Pop-Art Schule gegangen ist? Oder die Verdreifachung von Kameraperspektiven, bei der man an die Spielereien des Expanded Cinema denken kann? Das ist doch auch eine Beobachtung: Wie avantgardistisch Muybridges Bilder – im Vergleich etwa zu den frühen Lumière-Filmen – wirken. Angenehm, dass Andersen eine solche Perspektive überhaupt nicht forciert, sondern dieses eher Nüchterne hat.

[2]Thom Andersen: The ‘60s Without Compromise: Watching Warhol’s Films. Hier: rouge.com (30.5.2008)

Michael Baute Vielleicht kommt der Impuls, diesen Film über die Muybridge-Serien zu machen, genau aus diesen Milieus. Andersen hat ja beispielsweise Texte zu Warhol geschrieben [2] . Bei Virgilio Tosi übrigens (und das vermag Gabór Bódys Film mit seiner Videoemphase bisweilen auch zu zeigen) gibt es den Hinweis auf die unterschiedlichen Einstellungsgrößen, die sowohl bei Muybridge als auch bei Marey zu finden seien und die Konzentrationen, die über den Bildausschnitt gesteuert werden können, wenn man bspw. Hände in Großaufnahme sehe. Bei Tosi wird das im Off-Kommentar als Vorläufer kinematographischer »Grammatiken« beschrieben. In dieser Behauptung, die ja auch in Eric Rohmers Film über die Lumières mit Jean Renoir und Henri Langlois diskutiert wird, ließe sich wahrscheinlich ein Topos filmvermittelnder Filme zu Frühformen des Films finden. Andersens Position in dieser Frage ist klar: Muybridge hat mit dem, was später »Kino« genannt werden wird, nichts zu tun. Und Andersen findet das schade.

Stefan Pethke Ja, bei Andersens Schluss hörte ich eine Erzählung raus in der Richtung: Viel hat nicht gefehlt zum Kino, eine kleine Beschleunigung bzw. Verknappung der Zeit zwischen zwei Bildern.

Volker Pantenburg Das sehe ich etwas anders; auf die Großaufnahmen der Hände kommt auch Andersen zu sprechen, und sogar mit einem ähnlichen Unterton: Hier gibt es schon was, das im Kino erst später kommt. Aber der (auch ein bisschen bewundernde) Hauptimpuls ist der: Muybridge ist kein Vorläufer des Kinos, weil er das mit dem Rollfilm verpasst hat; er hat sozusagen nicht rechtzeitig von Handarbeit auf inner-apparative Fließbandprojektion umgeschaltet. Vielleicht sogar: Er hat wissenschaftlich experimentiert und sich der kapitalistischen Verwertung der Erfindung, wenn auch nicht intentional, entzogen. Mit seinem Verfahren, Fotoapparate in Reihe zu schalten, brauchte er 24 Kameras für einen 10-Sekunden-Loop: Wenn man bei Muybridges Verfahren geblieben wäre, bräuchte man (bei 24 Bildern pro Sekunde) 7.776.000 Fotoapparate für einen 90-Minuten-Film. Da wäre die Finanzierung noch schwieriger als es ohnehin ist. Was für ein Exzess!

Michael Baute »Exzess« ist ein gutes Stichwort.

Stefan Pethke Exzess? Man könnte das auch anders nennen: Bloß nichts verpassen wollen. Die Vollständigkeit als Forschungsziel. Deshalb ist ja auch das Abschlusszitat, das zähneknirschende Anerkennen der Tatsache, dass die Bewegungsstudien unausschöpflich sind, so toll!

Volker Pantenburg Ich denke eher, dass die Bewegung selbst unausschöpflich ist – und davon abgeleitet natürlich auch ihr Studium.

Michael Baute Wie ging nochmal das Abschlusszitat?

Stefan Pethke Sinngemäß: Auch wenn man mit den Apparaten alles über die Locomotion herausfinden könnte, so steht man doch vor einer Unerschöpflichkeit – inexhaustivity – der Bewegungsmöglichkeiten. So hab ich’s in Erinnerung.

Volker Pantenburg Moment, hier: »Although the broadest interpretation has been given in this investigation to the term Locomotion, it is not assumed that a response to every possible inquiry in this inexhaustible subject will be found in this work.« Das kommt aus dem ›Prospectus to Animal Locomotion‹ von 1887. Wenn also der Exzess (in Form von ›Unausschöpflichkeit‹) quasi im Gegenstand begründet liegt, gibt es unterschiedliche Methoden, mit ihm umzugehen.

Michael Baute Andersen verfährt hier schon im Geist des Enzyklopädisten, den er bei seinen nachfolgenden Filmen, Red Hollywood und Los Angeles Plays Itself auch anzapft. Er begegnet dem Muybridgeschen Exzess, in dem er ihn katalogisierend erfasst. Gabór Bódy begegnet Muybridge, indem er ihn zu übertreffen sucht…

Stefanie Schlüter Dieser Zug in Bódys Film ist schon in der Geste seines Titels erkennbar: »1880-1980«. Darin ist auch eine Anmaßung enthalten. Bódy sieht sich als direkter Nachfahr von Muybridge an.

Stefan Pethke Im zweiten Teil von Bódys Film, in dem er die Linien des Rasters animiert, rückt er die Proportionalitätsforschung etwas sehr – und zwar buchstäblich – in den Vordergrund. Damit wird er im Grunde klassisch-kunsthistorisch. Ist das eine Abkehr von der Bewegungsstudie? Es bleibt in jedem Falle videoreklamehaft, vor allem beim späteren Sprung in den Da Vinci-Kreis. Die Bewegungen von Bódys Modellen interessieren zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr.

Michael Baute Grundsätzlich problematisch, vor allem, ist die Bühnenhaftigkeit, auf die das Ganze in Bódys Film schließlich zuläuft. Es kommt einem im Nachhinein wie ein zu eiliges aneignendes Verstehen, mithin Missverstehen des Projekts von Muybridge vor. Das, was Andersen in Muybridge sieht (das Dokumentarische, Enzyklopädistische, Alltägliche wie Abnorme aufnehmende) wird bei Bódy zum schweißigen Ausdruckskram. Also zu Etwas, was gegen die Eindrucks-Nicht-Kunst von Muybridge gesetzt ist.

Volker Pantenburg Einerseits leuchtet mir das ein. Andererseits gibt es aber bei Muybridge genau auch das (scheinbar gegensätzliche) Interesse am Abnormen, an der Abweichung (die Freaks, der Epileptiker). Schon in den Landschaftsfotos: Das Abseitige, Abgelegene (wie er selbst den Apparat an die unmöglichsten Kamerastandpunkte trägt, weil sein Tscherpa sich weigert…). Das gehört wohl zur Definition des Enzyklopädisten: Das Abgelegenste und das Alltäglichste.

Stefanie Schlüter Diese Kette von Gegensätzen ließe sich erweitern: Stadt und Land, Mann und Frau, Mensch und Tier…

Volker Pantenburg Insofern ist Muybridges Projekt widersprüchlich und heroisch, und der Kreis zu Mao und seinem Zitat aus »On Contradiction« schließt sich. Muybridge will die entlegensten Dinge miteinander verbinden und unter dem Allgemeinbegriff der ›Bewegung‹ zusammenbringen. Bei Andersen ist das – in der Denkfigur seiner Zeit – in den Begriff der Dialektik eingegangen. Dialektik zwischen der anthropologischen Nacktheit der Modelle und dem objektivierenden Raster. Wahrscheinlich – implizit – auch: Dialektik zwischen Standbild und Bewegtbild.

Stefan Pethke Dem entspräche, auf welche Weise bei Andersen das Eingangszitat auftaucht: erst ein Satz, den man sich sozusagen auf der Netzhaut zergehen lassen kann; dann erwartet man das erste Bild, doch stattdessen erweitert sich das Zitat, indem ihm der folgende Satz hinzugefügt wird – eine Ankündigung Andersens darauf, wie er mit den Bildern Muybridges umzugehen gedenkt: aus zwei einzelnen Sätzen entsteht ein Fließtext…