Filmvermittlung und frühes Kino

Hartmut Bitomsky (Goldenes Zeitalter & Kulturrevue)
Zwei zeitgenössische Kritiken und ein Auszug aus einem Text Bitomskys

»Im Jahre 1895 fand die erste öffentliche Filmvorführung statt; und etwa ab 1913 dann, mit der Uraufführung von David Griffith’ Film Geburt einer Nation , begann man, den Film als künstlerisches Medium ernst zu nehmen. Die rund fünfzehn Jahre, die dazwischen liegen, gelten gemeinhin als die Kinderjahre des Films, die Jahre, in denen die Bilder ›laufen lernten‹.

Etwas ganz anderes behauptet und belegt die dreiteilige Sendung von Hartmut Bitomsky, die das dritte Programm heute und an den folgenden beiden Dienstagen ausstrahlt: diese Zeit sei vielmehr, so auch der Titel der Sendung, Das goldene Zeitalter der Kinematographie gewesen.

Die Materialbasis der Sendung sind rund 800 alte Filme, von denen die meisten aus der West-Berliner Kinemathek und dem Londoner National Film Archive entliehen sind, und die unter erheblichen Schwierigkeiten für die Fernsehausstrahlung aufbereitet wurden.

Aus diesem weitgehend unbekannten Filmmaterial – einigermaßen geläufig unter den Filmemachern dieser Zeit sind ja nur die Namen Lumière und Méliès – hat Bitomsky eine Montage gefertigt, die den Charakter einer bunten, unterhaltsamen Revue hat und die zeigt, daß es im ›erwachsenen‹ Kinofilm wenig nicht gibt, was es nicht auch schon in diesen frühen Jahren vor dem ersten Weltkrieg gegeben hat. Farbfilme von bemerkenswerter Qualität zum Beispiel hat es schon vor 1910 gegeben; die bei den Amerikanern so beliebten Verfolgungsjagden brachten damals die Franzosen schon mindestens so witzig auf die Leinwand; und für das Kapital auf der Leinwand steht jener frühe österreichische Herrenabendfilm mit dem Titel Im Maleratelier, wobei allerdings die Kamera schon beim Unterrock dezent ausblendet.

Dieser dreiteilige Rückblick ins ›Goldene Zeitalter der Kinematographie‹ dürfte die erste öffentliche Vorstellung vor größerem Publikum sein. Er zeigt nach Bitomskys Ansicht, daß das frühe Kino nicht bloß Pionierfunktion besaß, sondern einen völlig eigenständigen filmhistorischen Bereich darstellt, der vor allem durch seine enge Verquickung mit der Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts gekennzeichnet ist.«

[B.D.: Kinderjahre des Films rehabilitiert, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 14. September 1976]

»Manchem Zuschauer mag die dreiteilige Sendereihe über die Anfänge des Films etwas chaotisch erschienen sein. Das sollte auch so sein: Regisseur Hartmut Bitomsky und WDR-Filmredakteur Werner Dütsch wollten gar nicht erst versuchen, den komplexen Anfängen der Filmgeschichte ordnende Prinzipien aufzuzwingen, die den Realitäten keineswegs entsprechen würden.

Ihnen ging es vielmehr darum, die fälschliche Vorstellung von den »Kindertagen« des Kinos zu korrigieren. Denn wie die aus rund 800 gesichteten Filmen zusammengestellten Beispiele zeigten, wurden in den Jahren bis 1910 alle nur erdenklichen Arten von Filmen produziert. Und auch die Kinematograph-Veranstaltungen bestanden ja anfangs aus einer Fülle kurzer, völlig unterschiedlicher ›Films‹.

Für Bitomsky ist der Kinematograph ›nicht Anfang der Filmgeschichte, sondern das Ende einer Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts‹. Deswegen rückte die sorgfältig und umfangreich recherchierte Sendereihe den phänomenalen Aufstieg und Erfolg des Kinos in den rechten Zusammenhang zur industriellen Entwicklung, zur Klassenstruktur, zur imperialistischen Politik und zu den Erfindungen der damaligen Epoche.

So entstand nicht eine filmhistorische Anthologie früher Filmkunst, sondern eine anschaulich-kritische Analyse des Mediums Films, das auch schon in seinen Anfängen jene unvergleichliche Mischung aus Traum und Realität, Imagination und Ideologie, Illusion und Dokumentation präsentierte.

[RoT: Anschaulich, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 30. September 1976]

»Die Kinematographie ist zusammengesetzt aus vielen Vorerfindungen. Diese Erfindungen existierten nebeneinander her, und sie waren nicht darauf angelegt, zusammenzuwirken. Der Kinematograph ist vor allem ein Archiv verschiedener, eigenständiger Erfindungen.

Erst jetzt im nachherein mag es erscheinen, als habe eine logische Konsequenz, eine bereits immanente Verwandtschaft auf die Synthese der Erfindungen zum Kinematographen bestanden; als seien sie unfertig, nutzlos und nur halb gewesen, ohne den Anspruch auf ein selbstverständliches Eigendasein.

Kurz: man denkt über das Verhältnis von diesen Erfindungen zum Kinematographen wie über das Verhältnis des Kinematographen zum heutigen Kino: es wird gesagt, damals seien die Pioniere, die Vorläufer etc. am Werk gewesen, das Kino habe in den Kinderschuhen gesteckt und Bilder haben laufen gelernt. Noch kürzer: auch hierin dichten Erwachsene ihre eigenen Idiotien Kindern an.

Und nebenher bemerkt: wir kennen die Kinematographie nur aus dem Mißbrauch, welche die Schreiber mit ihm getrieben haben. Infolgedessen mögen wir nur Unbeholfenheit sehen und Schadenfreude verspüren: gleichzeitig aber all dies als den Beginn der Filmgeschichte – die dann bis zu uns hinführt und sich hier bei uns vollendet – mit in Beschlag zu nehmen.

Indessen ist der Kinematograph nicht Anfang der Filmgeschichte, sondern das Ende einer Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Und so, wie wir den Kinematographischen Apparat als Variante und als stückhafte Zusammensetzung verschiedener Erfindungen und Geräte des 19. Jahrhunderts betrachten lernen müssen, so müssen wir auch die Films betrachten: als ein Archiv von Bildern, Geschichen, Orten und Vorstellungen von Menschen, welche die Kultur im 19. Jahrhundert herausgebracht hatte.

Wollen wir aufhören anzunehmen, daß es den Fortschritt gibt und den Lauf der Geschichte: welche uns ins Recht setzen und mit den besseren Gedanken automatisch versorgen.«

[Hartmut Bitomsky: Das Goldene Zeitalter der Kinematographie, Filmkritik Nr. 237, Sept. 1976, S. 401]