Filmvermittlung und frühes Kino

Das goldene Zeitalter der Kinematographie
Notizen zu Hartmut Bitomskys »Das goldene Zeitalter der Kinematographie«

Teil 1

Zu Beginn, nach den colorierten Aufnahmen einer Schmetterlingstänzerin, ein Film, in dem Blöcke aus Stein von zahlreichen Pferden in eine Stadt gezogen werden – eine weitere, andere Ausfertigung von Attelage d’un camion als die, die bei Alain Bergala analysiert wird. Am Ende Aufnahmen vom Bau der Wolkenkratzer in New York: Die Stadt ist (dramaturgisch) der Rahmen dieser Folge von Bitomskys Sendung, und zugleich ist sie (soziologisch, mentalitätsgeschichtlich) der Kontext, in dem das frühe Kino entsteht.

Beschreibungen des Filmemachens auf der Straße. Eine Aussage der Firma Gaumont von 1910, die die Schwierigkeiten des Filmens im Stadtraum betrifft. Schön ist ein Cylinderhut, wenn man ihn besitzen tut: Ein Mann jagt quer durch die Stadt, mit Transportmitteln und ohne, über Dächer hinweg, seinem Hut nach, der immer wieder fortgeweht wird.

Die Filme werden – in dieser Folge, aber auch insgesamt in Das goldene Zeitalter der Kinematographie – oft sehr ausführlich und oft unkommentiert eingespielt.

Das Glück kommt über Nacht von 1910: »1910 wurde Paris von einer großen Katastrophe heimgesucht. Es gab eine Überschwemmung, die die Stadt verwüstete. Es gingen Leute mit der Kamera hinaus und drehten eine Geschichte, die in die Verwüstung hinein passte.« Die Geschichte geht so: Einer schläft in seinem Bett und merkt nicht, wie der Wasserpegel in seinem Zimmer langsam steigt. Das Bett wird vom Wasser emporgehoben und treibt durch die Stadt, ohne dass der Schlafende es merkt.

Die Bevölkerung Londons, ein langes Zitat von Engels über »die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen« (zitiert in Filmkritik Nr. 237, S. 420f.). Die Vereinzelung trotz der zusammengedrängten Lebensweise in der Stadt.

Nach etlichen Bildern von der Überschwemmung Paris’ wird – ich glaube: vollständig – ein Film der American Biograph von Griffith gezeigt: Der Goldtaler (USA 1908). Dazu aus dem Off ein Text, der im Nachhinein als eine Erinnerung Charlie Chaplins erkennbar wird. Sein erster Auftritt als Kind, als er für seine Mutter einspringt und viel Geld auf die Bühne geworfen wird. [1]

[1]Vgl. Charlie Chaplin: Die Geschichte meines Lebens, übersetzt von Günther Danehl und Hans-Jürgen von Koskull. Filmische Beratung Enno Patalas, Fischer: Frankfurt/Main 1977, S. 16ff.

Dann ein Abschnitt über die Liebe, versetzt mit Standfotos von Paarkonstellationen.

»Sehr viele Films handeln von der Liebe. Sie handeln davon auf die eine oder andere Weise. Sie handeln mit soviel Nachdruck von der Liebe, dass man sie für Propaganda halten muss. Und wenn sie mit soviel Nachdruck von der Liebe handeln, kann man getrost annehmen, dass sie von gegenteiligen Erfahrungen ausgehen. Die Liebe wird umso mehr propagiert als Bindemittel zwischen den Menschen, je mehr die Leute in der Gesellschaft angegriffen, ausgesetzt, verlassen, aufgeworfen und ausgenutzt sind.«

Danach kommt der Film – ein »Herrenabendfilm« – der ausführlich und analytischer als die übrigen von Bitomsky beschrieben wird: Im Maleratelier. Ein Maler malt ein Aktmodell und versteckt die Frau, als ein potentieller Käufer mit seiner Gattin ins Atelier kommt. »Der Film will ein Stück Pornorgraphie sein, doch er erzählt, wie Menschen miteinander auskommen. Er zeigt zwei Arten von Frauen und zwei Arten von Männern, und wie ihre Beziehungen zueinander sind. Ein Mann ist lüstern auf nackte Frauen, und der andere versteckt sie schamvoll. Er versteckt sie, weil er von ihrer Anwesenheit ablenken will. Und er will von ihr ablenken, weil er ein Bild verkaufen will. Eine nackte Frau ist eine Gefahr für den Handel wie für die Ehe. Das Modell hinter der spanischen Wand ist aufgeregt wie ein kleines Kind, das Verstecken spielt und darauf brennt, endlich entdeckt zu werden. Sie kann sich vor Lachen kaum halten.«

In der Folge viele Filme, die – à la Keystone Cops – turbulente Verfolgungsjagden zeigen. Die enge Verbindung zwischen Verfolgungsjagd und Kino.

Das »Kinderkino«, wie es in einer Zeitungsmeldung von 1913 beschrieben wird: »In einem Wiener Arbeiterviertel wurde im Keller eines Zinshauses ein Kinderkino ausgehoben. Ein Mechanikerlehrling und ein Hilfsarbeiter hatten in einem leerstehenden Keller mit einem Projektionsapparat, einigen Films und einer Lichtkraft sich ein primitives Kino eingerichtet, das von den Kindern zahlreich besucht wurde, bis schließlich die Polizei dahinterkam. Das Kino wurde gesperrt, und die beiden ›Direktoren‹ werden sich beim Bezirksgericht zu verantworten haben.«

Aber auch: Das Kino als Möglichkeit, jemanden einer Tat zu überführen (zum ersten Mal aktenkundig bei der Champagnerrevolte).

Teil 2

Zu Beginn ein Film über eine Hexe. Er ist beinah unverbunden mit dem übrigen, eher den dokumentierenden Seiten des Kinematographen gewidmeten Teil der Sendung. Vielleicht um zu sagen, dass beides nicht zu trennen ist, das »Imaginäre« und das »Reale«.

Die Erfindungen und Transportmittel. Filme mit Lokomotiven – Phantom-Rides – Die erste Ausfahrt einer Radlerin (1907), eine Frau, die alles über den Haufen fährt, was ihr in den Weg kommt. – »Der Kinematograph: immer in Tuchfühlung mit der Entfaltung der Produktivkräfte. Er ist zur Stelle, wenn etwas erfunden wird«, heißt es sinngemäß im Kommentar. Aber vor allem auch, wenn Dinge nicht gelingen. – Ein Flugpionier zeigt seine Erfindung und führt sie vor; natürlich kommt das Gerät nicht vom Boden.

»Die ganze Welt rückt in den Blickpunkt«. Der Orient als Schauplatz der frühen Filme. Marokko. Der kolonialistische Hintergrund der französischen und anderen Filme (viele der gezeigten stammen von Pathé, sind aber mit deutschen Zwischentiteln versehen).

Ein charakteristisches Zitat: »Was die Leute mit der Kamera an Tanger interessiert hatte, waren: Die Hafenanlagen und die Verlademöglichkeiten, ein Zollamt, die Straßen und der Markt, die eingeborenen Arbeitskräfte, die militärischen Anlagen, das Ghetto und die Spaßmacher. Sie filmten wie Neugierige. Sie zeigten, wie es an einem bestimmten Ort in der Welt ausschaut. Aber zugleich zeigten sie das, was vom Standpunkt der kolonialen Geschäfte von Interesse war.«

Das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Kriege – Bitomsky/Dütsch erkennen im historischen Verlauf ein Dreistufen-Modell: militärische Eroberung – wirtschaftliche Erschließung – visuelle Inbesitznahme durch den Kinematographen. Wenn man so will, laufen alle drei Phasen in der Weltausstellung im Jahr 1900 zusammen.

Die Elektrizität – ein sehr turbulenter und destruktiver Film über jemanden, der einen Blitzableiter feilbietet und überall, wo er hinkommt, für Zerstörung sorgt. Als das Gerät schließlich installiert ist, tanzen die Leute wie verrückt, die Hunde springen im Dreieck etc.

Dann nochmal Bilder von der Weltausstellung, der eine Kolonialausstellung angegliedert war (so, das legt der Film nahe, war beides in unmittelbarer Nachbarschaft: Die Erfindungen und die Kriege). Viele bunte Illustrationen aus Büchern. »Und manch einer hatte auf der Weltausstellung den Eindruck, er spazierte auf einem Traum herum.« (Vielleicht weist das zurück auf den ersten Film dieser Folge mit Hexen und Feen: Das Traumhafte nicht länger als Rückseite oder Gegensatz, sondern als Potenzierung des Realen, das der Kinematograph sichtbar macht.)

Am Ende, zu den gesprochenen Credits, Bilder vom Eiffelturm, zunächst von außen, dann aus dem Aufzug nach oben, später Luftaufnahmen von Paris.

Nach den Credits noch zwei überraschende Schauplatzwechsel. Der Kampf zwischen Polizisten und Anarchisten in London, die sich in einem Haus verschanzt haben. Winston Churchill leitet den Einsatz und gibt Befehl, das Haus in Brand zu setzen, um die Anarchisten auszuräuchern. Danach noch ein letzter kurzer Film: Ein Ruderboot am Meer.

Teil 3

Der dritte Teil beginnt programmatisch mit La sortie d'usine (F 1895). Eine Art Überschrift könnte sein: Der Kinematograph und sein Bezug zur Arbeit und zur Arbeiterklasse. Das utopisch Ungeordnete.

Das Kino und sein Publikum. »Die Niederen Leute«, das meint: Arbeiter, Frauen und Kinder.

Die Armut der Leute, Engels über die Lage der englischen Arbeiter. Ursus, der starke Mann, sein Kampf mit dem Ochsen, ganz rechts am Rand des Kaders. Das Tier hält sich nicht an den Bildausschnitt. Schließlich hat der Kämpfer den Ochsen niedergerungen und verbeugt sich zur Kamera.

»Der Kinematograph gehörte fast auf Anhieb zu den Konsumtionsmitteln der Arbeiter. Und die Films wurden gesehen wie Lebensmittel verzehrt werden. Sie beschrieben, was im Leben nach und neben der Arbeit passierte.«

Hintergrund Jahrmarkt: Wie auch viele Inhalte der Films vom Jahrmarkt genommen sind. Wilde Tiere, Schaustellungen etc., »Dinge, die wie noch nie gesehen waren«.

Die Programmzusammenstellung der Projektionen. Der Anteil des Zufalls. »Das Durcheinander blieb als ein Durcheinander kenntlich, und die Gegensätze blieben erhalten.«

Méliès-Filme, coloriert, etwas über Mèliès. »Er machte alles. Sogar Wochenschauen, die schon vor dem Ereignis entstanden, von dem sie berichten sollten. Sie wurden einfach inszeniert.« Das Handcolorieren ist eine Frauenarbeit. Eine Beschreibung, wie diese Arbeit organisiert war. Der wundervolle Rosenbaum von Meliès.

Eine Art Exkurs über die Eigentumsverhältnisse: Die Geschichte vom Eskimo, der in die Schallplatte beißt, wohl aus Angst, seine Stimme zu verlieren. »Ein Jurist drückt das so aus. Der Fotograf oder der Filmemacher produzieren etwas Reales. In dieser Produktion treffen sie aber auf ein Reales, das schon einem anderen gehört. Der Fotograf kann wohl ein Gesicht fotografieren, aber dieses Gesicht gehört schon jemandem, dem Fotografierten, der Eigentümer darüber ist.« Bitomsky resümiert: »Komplizierte Eigentumsverhältnisse.«

Um 1900 war der Kinematograph von den Jahrmärkten schon wieder verschwunden. Nickelodeon. 1905: Pathé lässt gleich nach der gescheiterten Russischen Revolution einen Film namens Panzerkreuzer Potemkin drehen. Ausschnitte aus diesem Film. Frauen und Arbeiter werden niedergeschossen.

Nach dem Panzerkreuzer-Film ein gut dreiminütiger Western von vor 1905. Dazu folgende Gedanken von Bitomsky: »Der Western soll einen Banküberfall zeigen, doch vor allem zeigt er, wie eine kleine amerikanische Stadt mit sehr viel Sonnenlicht und sehr viel Staub aussieht, in der ein Western gedreht wird. Er zeigt sogar die Zuschauer am Rande des Drehorts, die den Dreharbeiten zusehen, als wären sie ein Überfall auf eine Bank. Um all das zu erzählen, braucht der Film über drei Minuten, das ist sehr viel Zeit. Heute würde dieser Vorgang vielleicht nicht einmal 30 Sekunden im Kino dauern dürfen, wie auch umgekehrt im Goldenen Zeitalter der Kinematographie in fünf Minuten eine Geschichte erzählt werden konnte, die heute auf 90 Minuten ausgedehnt wird. Daran kann man sehen, dass das konkrete Detail Vorrang hatte vor dem abstrakten Ganzen.«

Dann der Wechsel, das Ende des frühen Kinos: Die Banken beginnen sich für das Kino und den möglichen Profit zu interessieren. Es werden Schriftsteller um Stoffe und Drehbücher gebeten, das Publikum wechselt, Rezensionen erscheinen in Zeitungen. Vermehrt Bibel-Stoffe, »Stoffe, deren kultureller Wert anerkannt war.« 1907: Die Kinematographie wird systematisch, ihr wird nun Erziehungsfunktion zugesprochen.

Nach dem Kino des Wunderbaren (Meliès) kommt das Kino des Unheimlichen.

Gegen Ende ein überraschend didaktisch-anschaulicher Exkurs. Es wird das Filmmaterial von damals und das von heute verglichen, indem jeweils das gleiche Motiv gefilmt ist. Das ist das »ortho-chromatische« im Gegensatz zum aktuellen, »pan-chromatischen« Verfahren. Man sieht die Unterschiede.

Gedanken über den Schlusspunkt des »Goldenen Zeitalters«, gegen 1907/1908:

»Die Zeit des Bastelns, des Improvisierens und Zauberns ist vorüber. Die Films werden länger und noch aufwändiger gedreht. Sie fangen an, ihre Wirkung auf das Publikum auszuklügeln und zu kontrollieren. Die Geschichte der Filmkunst fängt an. Das heißt vor allem, Regisseure und Schauspieler und Autoren können sich profilieren. Und das heißt vor allem: Sie können ihre Verkäuflichkeit besser berechnen. Es gibt die ersten Stars, deren Namen man kennt. Für das Kinopublikum hat das bedeutet, dass die Eintrittspreise stiegen.«

Dazu stilisierte Fotos von Stars.

Englischer Film von 1910. Bergarbeiter geht zur Arbeit. Ausführliche Dokumentation der Arbeit in der Miene. Noch einmal die Arbeit, das 19. Jahrhundert, noch intakt und dokumentiert.

Utopie eines gemeinsamen sozialen Bands im Kino (Sartres Erinnerung an die ersten Besuche des Kinematographen).

»Der Kino ist lustig und traurig. Damit man das Lustige und das Traurige nicht verwechselt und keins von beidem vergisst.«

(VP)