Filmvermittlung und frühes Kino

Hartmut Bitomskys »Kulturrevue« (BRD 1979)

Auszug aus einem Gespräch über Hartmut Bitomskys vierteilige Serie

Michael Baute Entliehen scheint mir das Verfahren der vier Filme dem Passagenwerk von Walter Benjamin. Gemurmel, Auszüge, sich überlagernde Stimmen. Zitate, die sich zu Blöcken montieren, teilweise eingeleitet, erläutert, teilweise mit Kommentaren versehen. Keine talking heads, talking texts! Dazu hört man meist zeitgenössische Musik. Die Musik ist selten kontrapunktisch eingesetzt. Sie hat einen verstärkend illustrierenden Charakter. Ich meinte bspw. Offenbach zu hören bei einer der Méliès-Féerien oder Militärmarschähnliches bei Paradebildern. Städtische Zentren des Films sind London und Paris. Mit den beiden Städten sind auch zwei Daten verbunden: 1851, die erste Weltausstellung in London, 1900 die Weltausstellung in Paris. Die Zeit dazwischen hat die erste Kinematographie geprägt.

Stefan Pethke Keine Zwischentitel, keine Zitatkennzeichnungen, dürre Abspann-Credits, denen nichts zur Musikauswahl und nur indirekt und unvollständig Informationen zu den gezeigten Filmausschnitten und zu dem anderen Bildmaterial zu entnehmen sind. Eine geringe Transparenz in Sachen Konstruktion. Der Fluss der Bilder und Gedanken soll ungehindert – was natürlich nicht das gleiche ist wie ›unüberlegt‹ – über unsere Augen und Ohren in unsere Köpfe strömen. Kino als Kunst des 19. Jahrhunderts: Eisenbahn, Weltausstellung, Fortbewegungsmittel für individualisierte Massen (Fahrrad, Auto), Elektrizität, weltumspannender Handel von den Kolonien bis in die neuen Riesenkaufhäuser. Reklame, das Soziale, die Entdeckung der Frau als Konsumentin - das wären weitere Stichworte, die sich für mich mit dem ersten Teil der Kulturrevue verbinden.

Michael Baute In Kulturrevue gibt es viele solcher Momente des Übervollen, Überstürzenden. Der Titel weist daraufhin, »Revue«. »Revue« bezeichnet regelmäßig erscheinende Magazine, wie sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts geläufig werden. Andererseits bezeichnet das Wort die Wieder-Ansicht von Ansichten, seien es schriftliche oder bildliche, oder eben: Kino aus der Zeit zwischen 1850 und 1910. Es ist nicht: Erst das, dann das, woraus das und daher wiederum jenes folgt… Diese Ansichten sind mit Texten kommentiert, die aus dem Off zu hören sind. Auch bei diesen zitierten, meist zeitgenössischen Texten gibt es Überlagerungen, wenn zwei Sprecher leicht verschoben das selbe mehr unter als über die Bilder sprechen. Das ist konzeptionell angelegt. Ein Wiederhall, Echo. Dieses Echo ist an den Stellen eingesetzt, an denen man Wiederholbares hört. Oft sind es Texte, die von Ingenieuren geschrieben sein könnten; Ideologien, Theorien der industriellen Produktion. Das ist sozusagen das Grundgemurmel, das unter all den gezeigten »vues« zu hören wäre. Und oft handeln diese Textausschnitte auch vom Wiederholen, das die Maschinen besser machen können als die Menschen.

Stefan Pethke Der Titel Kulturrevue knüpft ja noch an eine andere Bedeutung an, an eine Begrifflichkeit vom Kulturfilm. Der Begriff ließe sich herleiten aus den frühen Gesten des Filmens, aus einer Weltvergrößerung – im Sinne von: mehr Informationen über Entlegenes sind im Umlauf.

Michael Baute Deutlich wird dabei auch die Kopplung von Kultur und Industrie. Der Beginn der Kulturindustrie. Es gibt zusätzlich zu den kompilierten Filmen, den Werbe- und Illustrationsmaterialien auch eigens für den Film hergestellte Filmaufnahmen. Sie sind an wenigen Stellen zu finden. Während ein (Fiktions-)Text zu hören ist, der in einem nacherzählten Dialog von der rascheren Absetzung größerer Warenmengen zu günstigeren Preisen handelt, sieht man Bilder aus 1979. Die Kamera fährt in einem Schwenk die Stahlarchitektur einer wohl Pariser Passage ab. Ein anderes Beispiel für die Verwendung von eigens für den Film hergestellten dokumentarischen Ansichten: Man sieht den Ausschnitt aus einem Film. Der Ponysalto. Akrobaten in einem Zirkusrondell hüpfen über Ponies. Die Kulturrevue zeigt nun: Das ist ein wiederkehrendes Motiv. Eine Reihe mit verschiedenen Manifestationen des Motivs wird nun aufgemacht. Abbildungen, Grafiken, Plakate, Werbung, bis hin zu einer Zeichnung von Grandville, aus der von einem Detail, nämlich dem Ponysprung, aufgezommt wird auf das ganze Bild, das eine Erdkugel voller bürgerlicher Vergnügungen zeigt. Teil dieser Reihe, dazwischengeschnitten, sind Putten an Gebäuden aus jener Zeit. Die zeigt der Film, belegend, vom Kameramann Carlos Bustamante wohl 1979 an Ort und Stelle aufgenommen.

Stefan Pethke Ich notierte mir noch diese Stelle: Der Katalog der Firma Lumière, der seine Filme »vues«, Ansichten, nennt, käme einem Kanon der bügerlichen Welt gleich, v.a. in der sorgfältigen Rubrizierung könnten ihre vier Säulen deutlich erkannt werden: das Private, das Öffentlich-Politische, das Historische, das Moralische. Allerdings schätze ich, dass dieser Text von Bitomsky selbst stammt; ist aber keineswegs sicher.

Michael Baute Es fällt auf, wie unterschiedlich die Formen sind, mit diesen »vues« umzugehen. Für uns heute, deren Kinodenken vom Storyfilm dominiert ist, sind diese »vues«, das heißt ja auch »Ansichten« jener Zeit, fast nur noch als Fragment beschreibbar.

Stefan Pethke Wie irrsinnig viele Phänomene auf der Welt gefilmt eine Faszination ausüben. Noch eine Textstelle, etwas, das die Kulturrevue deutlicher macht als Martina Müller bei ihrem Cinématographe Lumière: die Operateure der Lumières als Multitasker darzustellen. Sie reisen, führen Filme vor, kontrollieren die Einnahmen an der Kasse, drehen selbst Filme, bringen sie zurück nach Paris (und anderswo) usw. – und eröffnen damit den Handel mit Bildern, die selbst um die Welt gehen. Nicht mehr weit bis Hollywood. Und das Imperiale ist von Anfang an dabei, ist eine entscheidende Voraussetzung dafür. (...)

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