Filmvermittlung und frühes Kino

2 x 50 ans de cinéma français
Zum Film von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville

[1]Die Vorstellung von »Weltkino«, die das Projekt insgesamt propagiert, wirkt von heute aus bestenfalls historisch, eher jedoch chauvinistisch und anachronistisch. Man merkt, dass es vor allem um eine Versammlung von großen Autoren ging: »Each film was a great director's personal view of their own national cinema, with Martin Scorsese's history of American cinema as our flagship.« (MacCabe) Das Argument, dass nicht jede Filmnation auf eine längere Geschichte zurückblicken kann, zieht kaum. Schließlich bildet sich, unabhängig vom Historischen - zugleich eine gegenwärtige Weltkarte des Kinos ab, auf der Taiwan, der Iran und der gesamte afrikanische Kontinent schlicht nicht existieren.
[2]Colin MacCabe: Godard. A Portrait of the Artist at Seventy, New York: Farrar, Straus and Giroux 2004, S. 300.

2 x 50 ans de cinéma français entstand – wie so viele andere Filme 1995 – aus Anlass des 100. Geburtstags des Kinos. Auftraggeber war die Fernsehabteilung des British Film Institute (BFI TV), die ihrerseits von Channel 4 damit betraut worden war, eine insgesamt 13-teilige Reihe »Filmgeschichte weltweit« zu produzieren. [1] Allerdings war Godard keineswegs die erste Wahl für den Beitrag zum französischen Kino. Im Gegenteil. „[T]he only clear instruction I received was that we were not to commission an incomprehensible Godard“, berichtet Colin MacCabe, der das Projekt beim BFI gemeinsam mit Bob Last betreute. [2] Dass schließlich doch Godard und Miéville zum Zuge kamen, ist der Ablehnung Bertrand Taverniers zu danken, der sich außerstande sah, 100 Jahre französisches Kino in 50 Minuten abzuhandeln.

Den erzählerischen Kern von 2 x 50 ans bildet ein Gespräch zwischen Godard und Michel Piccoli, das eher den Charakter eines Verhörs hat. Piccoli, mit dem Godard in den beiden Film-im-Film-Filmen Le Mépris (1963) und Passion (1982) zusammengearbeit hatte, tritt als Präsident der Vereinigung »Le premier siècle du cinéma« auf, die in der Lumière-Stadt Lyon und in ganz Frankreich die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag organisierte. Da Piccoli diese Funktion um 1995 tatsächlich ausübte, verschwimmt bereits hier programmatisch die Grenze zwischen »dokumentarisch« und »inszeniert«.

Im ursprünglichen Plan von Godard/Mièvilles Projekt war vorgesehen, verschiedene Orte aufzusuchen, die in der französischen Filmgeschichte prominente Rollen einnehmen (etwa Pigalle, das in Bob le flambeur im Zentrum steht); die reduzierte Variante, die dann realisiert wurde, umfasst die Anreise Piccolis am Genfer See, das Gespräch mit Godard im Restaurant eines Hotels, einige Szenen mit Piccoli auf seinem Hotelzimmer bis zur Abreise. Von dort aus binden Godard/Miéville – vergleichbar mit den zeitgleich entstehenden Histoire(s) du cinéma, aber weniger extensiv – collagierend Ausschnitte aus der französischen Filmgeschichte ein.

Ein großer Teil der Befragung dreht sich um den Sinn oder Unsinn, 100 Jahre Film mit einer Feier zu begehen. Godards Position (Unsinn) wird schnell deutlich, Piccoli gerät durch die Nachfragen in die Defensive: Indem man den 28.12.1895 als Datum festsetzt, feiert man nicht die neue Technik (also zum Beispiel die Erfindung der Kamera), sondern ihre kommerzielle Auswertung. Dagegen sei nichts einzuwenden, aber man solle das wenigstens auch so sagen. Auch der Akt des Feierns erscheint Godard dubios: Man feiert, mutmaßt er, um sich freizukaufen von der Schuld, das Kino vernachlässigt zu haben. Wenn es darum gehe, an die Filmgeschichte zu erinnern, solle man die Filme lieber im Fernsehen zeigen, wo sie mehr Leute erreichen, anstatt eine Feier zu veranstalten. Piccolis Entgegnung, man habe ja vor, jeden Tag einen Lumière-Film im Fernsehen zu zeigen, lässt Godard nicht gelten: Statt einer Minute pro Tag müssten die Filme 24 Stunden lang gesendet werden, so wie man auch kontinuierlich – jeden Tag – Nuit et brouillard im Fernsehen zeigen müsse, wenn man die Erinnerung an die Konzentrationslager wirklich wachhalten wolle.

Wie sehr das Kino in Vergessenheit geraten sei, zeigen die inszenierten Szenen. Wann immer Piccoli jemanden trifft – einen Angestellten in der Küche, die Putzfrau, den Kellner vom Zimmerservice –, fragt er nach Schauspielern, Regisseuren oder Filmtiteln aus der Filmgeschichte: Jany Holt, Michele Morgan, Bob le flambeur... Die Antwort ist immer »Nein, sagt mir nichts, aber ich kenne...« (Madonna, Arnold Schwarzenegger, Beverly Hills Cop etc.) Auf die Frage nach Jacques Becker antwortet der Kellner vom Zimmerservice: Der heiße doch nicht Jacques, sondern Boris, aber – ein typischer Godardscher Kalauer –, der hätte auch einen guten Service (»c’est un bon serveur, comme moi«).

[3]Bob Last wird ausführlich zitiert in MacCabes Buch: Godard, S. 303-306; dort auch zwei Briefe aus der Korrespondenz zwischen Last/BFI und Godard.

Interessant ist die Art und Weise, wie die Filmausschnitte eingebaut sind. Ein Viertel des Produktionsbudgets stand zur Klärung der Bildrechte bereit, aber überraschenderweise kündigte Godard schon früh an, auf alles Material zu verzichten, das der Rechteklärung bedürfe. Bob Last, der in den 70er Jahren als Punk-Produzent arbeitete, berichtet: »We’d been much worried about whether the clips he was using would be properly cleared for worldwide delivery and a lot of time had gone into preparing a watertight contract which specified that forty per cent of the budget would be spent on clips. We were completely stumped when he [Godard] said that he’d be using no clips that he didn’t own and asked for the forty per cent to be advanced straight away. It was a brilliant move and to this day if you asked me whether it was a scam to avoid cost and effort or an aesthetic strategy linked to his theme of the forgetting of the movies I couldn’t answer. It was both at the same time – cash theory instead of critical theory – something I could respond to given my punk days in the seventies.« [3]

Dass Godard/Miéville schließlich doch auf Filme zurückgreifen, die anderen Rechteinhabern »gehören«, führt im Ergebnis zu einer ganzen Reihe von Clips, zu deren Tonspur jeweils die Angabe »No Copyright« im Bild zu sehen ist.

2x50 ans de cinéma

Unter dem Strich sind dies zwei Aspekte, die ohne Godard in den filmischen Erinnerungen des Jahres 1995 fehlen würden: die kritische Frage, in welchem Verhältnis die festliche Erinnerung von staatlicher und institutioneller Seite zum tatsächlichen Vergessen der Filmgeschichte steht und der sichtbare Hinweis, wie sehr Fragen der Vermittlung und des bloßen Zeigens immer auch rechtliche und politische Fragen sind.