Verfahren des filmvermittelnden Films

Drei Minuten in einem Film von Ozu

Von Helmut Färber

Die Geschichten, die Kinofilme erzählen, dauern eineinhalb oder zwei Stunden.
In dieser Zeit könnte man keinen ganzen Roman lesen.
Es gibt aber Filme, die es vermögen, in diesen eineinhalb oder zwei Stunden langsam von einem ganzen Leben zu erzählen.

André Bazin schreibt in seiner Besprechung von Jean Renoirs Film Der Strom, The River, gegen Ende:
hier existiert die Leinwand nicht mehr, nur noch Wirklichkeit.
Das könnte auch für die Filme von Ozu gesagt sein.
Sie haben etwas so Einfaches an sich als hätten sie sich selber gedreht.
Ihre Wahrheit, ihre Innigkeit – ja, ich möchte dieses Wort gebrauchen – ihre Innigkeit ist, wie das Komische in ihnen, enthalten in dem alltäglichsten Geschehen.

Ein Film ist ein Ganzes, das aus vielen einzelnen Filmaufnahmen besteht.
Ich möchte jetzt ein Stück etwas näher ansehen aus einem Film von Ozu, so wie jemand sich die Beschaffenheit einer Architektur oder einer musikalischen Komposition näher ansehen kann
ein Stück aus Banshun, Später Frühling, der heute in einer Woche gezeigt wird
– den Radausflug, den Noriko und Hattori, der Assistent ihres Vaters, miteinander machen
– den ersten Teil dieser Sequenz, die aus zwei Teilen besteht.


1     TOTAL.
Strand. Wellen.

2     TOTAL. FAHRT.
Strand. Wellen.
Blickrichtung nach rückwärts,
nach rechts (= von links)

3     NAH. FAHRT.
Noriko auf dem Rad, von vorn, etwas von links.

4     NAH. FAHRT.
Hattori auf dem Rad von vorn, etwas von rechts.

5     TOTAL. FAHRT.
Noriko und Hattori auf der Strasse fahrend, genau von hinten,
genau symmetrisches Bild.
Die Kamera fährt langsamer als die beiden, so dass sie im Bild kleiner werden.

6     NAH. FAHRT.
Noriko, wie 3.

7     NAH. FAHRT.
Hattori, wie 4.
Er blickt nach rechts (zu ihr).

8     NAH. FAHRT.
Noriko, wie 3.
Sie blickt nach links (zu ihm), streicht sich das Haar zurück.

9     TOTAL. FAHRT.
Noriko und Hattori auf der Strasse fahrend, genau von vorn,
symmetrisches Bild.

Zu Anfang der Einstellung ist die Kamera genau so weit vor ihnen, wie sie am Ende von 5 hinter ihnen ist.

Kamera fährt langsamer, so dass sie im Bild grösser werden.
Schnitt, als sie anfangen zu beiden Seiten an der Kamera vorbeizufahren.

Je ein helles Schild am linken und am rechten Strassenrand.

10     TOTAL. SCHWENK.
Von rechts der Strasse, Noriko und Hattori fahrend,
die Kamera schwenkt mit ihnen, nach rechts.

11     NAH. FAHRT.
Noriko, wie 3.

12     NAH. FAHRT.
Hattori, wie 4.
Hattori: (You’re all right? Not tired?)

13     NAH. FAHRT.
Noriko, wie 3.
Noriko: (Yes ... no worry.)

14     TOTAL.
Strasse, mit Brücke und Schild, von links der Strasse.
Noriko und Hattori fahren rechts ins Bild,
und schräg nach links, in die Bildtiefe,
so dass die Bewegung langsamer wird.

15     TOTAL.
Strasse, mit Coca Cola Schild, von rechts der Strasse.
Noriko und Hattori kommen links gefahren, schräg nach vorn,
so dass die Bewegung schneller wird, sie fahren rechts aus dem Bild,
das leere Bild bleibt noch.

Zu Beginn der Einstellung sind Noriko und Hattori an der selben Stelle des Bildes wie am Ende von 14.

16     TOTAL.
Sandboden. Strand.
Rechts vorn die abgestellten Räder.


Die Sequenz beginnt mit einer TOTALE (1), bei der die Kamera noch unbewegt ist; das Meer bewegt sich.
Die folgende Einstellung (2) hat dasselbe Motiv, aus einer grösseren Entfernung, und jetzt fährt die Kamera, und damit beginnt die Bewegung, die durch eine ganze Folge von Einstellungen durchgeht, und so sie miteinander verbindet. Die Kamera fährt nach rechts, mit dem Blick gleichsam nach rückwärts gerichtet – was sich durch die folgenden Einstellungen erklärt (3, 4): es ist die Bewegung und Blickrichtung, mit der die Kamera vor den beiden Radfahrenden herfährt
– erst Noriko (3), sie fährt auf der rechten
– dann Hattori (4), er fährt auf der linken Seite.

Nach diesen beiden NAH-Aufnahmen (3, 4) folgt eine neue TOTALE (5): ziemlich symmetrisch und bildparallel; die Kamera fährt, und jetzt hinter den beiden; die beiden fahren rascher als die Kamera fährt, und kommen damit in die Bildtiefe.
Die Blickrichtung, Kamera-Richtung ist genau die Mitte zwischen jener der beiden NAH-Aufnahmen (3, 4), aber ist die Umkehrung davon.

Darauf folgen wieder drei NAH-Aufnahmen (6, 7, 8), in genau der gleichen Cadrierung wie vorher (3, 4). Die Bewegung des Fahrens setzt sich dabei immer fort, teilt sich mit durch das Vorbeiziehen des Hintergrunds.

Auf diese drei NAH-Aufnahmen (6, 7, 8) folgt wieder eine TOTALE (9), die nun ganz offensichtlich ein Gegenstück und eine Umkehrung zu der vorigen (5) ist:
– wie dort (5) die Radfahrenden von rückwärts gesehen sind, so hier (9) von vorn
– wie zuerst (5) sie sich von der Kamera entfernen, so kommen sie jetzt (9) auf die Kamera zu
– wodurch das Ende der ersten TOTALE (5) genau dem Anfang der zweiten (9), und das Ende der zweiten (9) genau dem Anfang der ersten (5) entspricht.

Auf diese TOTALE (9) folgen nun nicht unmittelbar, wie auf die vorige (5) wieder NAH-Aufnahmen, sondern es folgt eine weitere, eine andere TOTALE (10).
Sie hat mit jener, die ihr vorangeht (9) eine gewisse Korrespondenz: durch den Zusammenhang der Bewegung auf die Kamera zu (9) und von der Kamera weg (10), es ist eine Bewegung, die sich fortsetzt, auch eine Korrespondenz zwischen jenem Anfang (9) und diesem Ende (10) – und überhaupt besteht zwischen den TOTALEN eine Art Grundähnlichkeit der Bildkomposition.
Zugleich aber ist diese TOTALE (10) ein anderer Typus: indem jetzt die beiden Radfahrenden von der Seite, von rechts der Strasse und nach rechts fahrend gesehen sind.

Jetzt auf diese zweite TOTALE (10) folgen wieder drei NAH-Aufnahmen (11, 12, 13), wieder genau desselben Typs, und im selben Wechsel (wie 6, 7, 8).
Danach wieder eine TOTALE (14). Sie hat zu der vorhergehenden (10) ihre Entsprechungen, allgemein durch Bildbau und Horizontlinie, im besonderen durch Sicht von rechts und Fahrt der beiden nach rechts dort (10), Sicht von links und Fahrt der beiden nach links hier (14).
Zugleich enthält diese TOTALE (14) neue Momente
– zum einen mit dem Schild an der Strasse, Geschwindigkeitsvorschrift, in Englisch: Präsenz der Siegermacht USA im Japan der Nachkriegsjahre – Banshun ist 1949 gedreht –, wofür es in dem Film noch andere Zeichen gibt; das Zusammentreffen von japanischer Tradition und westlichen Lebensformen ist ein Motiv, das die ganze Filmerzählung durchzieht
– zum anderen damit, dass die Einstellung für einen Augenblick beginnt – nach der durchgehenden Bewegung in den Einstellungen zuvor, von (2) an – als ein Bild ohne Bewegung, womit sich etwas ankündigt; aber dann sogleich kommen die beiden ins Bild, von rechts, und fahren in die Bildtiefe, nach links, wodurch die Bewegung langsamer wird.

Darauf folgt die TOTALE mit dem Coca-Cola-Schild (15). Wieder Entsprechung dieser Einstellung zur vorigen (14), durch die Schilder, und indem die beiden Radfahrenden jetzt zu Anfang von (15) im Bild an genau der selben Stelle wie zuvor am Ende von (14) sind.
Sie kommen jetzt aus der Bildtiefe gefahren, wodurch die Bewegung schneller wird, bis, indem die beiden aus dem Bild fahren, auch die Bewegung verschwunden ist, so dass die Bewegung, die zu Anfang der Sequenz begonnen hat mit der Einstellung (2), hier endet, und innerhalb dieser Einstellung die Bewegungslosigkeit erreicht ist. (Diese Einstellung (15) fehlt, wohl aus rechtlichen Gründen, in manchen Kopien des Films.)

Die nächste und letzte Einstellung dieses Stücks ist ein ganz bewegungsloses Bild (16). Nur die Spuren der Bewegung, im Sand, zu den abgestellten Fahrrädern hin, sind noch zu sehen. Und diese dritte TOTALE in der Folge, letzte Einstellung des ersten Teils, ist zugleich die erste des zweiten Teils der Sequenz.

Wenn man dies Stück (1 bis 16) im ganzen betrachtet, so zeigt sich, dass es gebaut ist aus zwei Typen von Einstellungen, Cadragen:
aus den NAH-Aufnahmen, die ganz gleichbleibend sind,
und aus den TOTALEN, zwischen denen zum einen jene Art Grundähnlichkeit besteht – vor allem durch die, fast, gleichbleibende Horizontlinie – und zum anderen die verschiedenen benannten Entsprechungen bestehen.
Die TOTALEN sind – wie dies die Anordnung der Photogramme zu zeigen versucht – für die NAH-Aufnahmen eine Art Rahmen
– indem von der TOTALE (5) die TOTALE (9) eine Umkehrung ist
– und ebenso (14) eine Umkehrung von (10).
Dabei sind (5) und dessen Umkehrung (9) beides Kamera-Fahrten, (10) ist ein Schwenk, aber die Umkehrung (14) eine feste Einstellung, und ist so, wiewohl mit (10), zugleich mit den folgenden ebenfalls festen Einstellungen (15) und (16) zusammengehörig. Das heisst, dass die Ordnungen mehrsinnig, mehrschichtig sind –

– womit ich diese Erläuterungen abbreche
– und womit erst einiges von dem, was dieses Stück Film ausmacht, benannt ist
– denn diese so evidenten Ordnungen, Anordnungen in den Filmen von Ozu, die so anschaulich leicht sich schematisieren lassen, und in welchen immer etwas Befreiendes sich mitteilt, sie bestehen in diesen Filmen nicht für sich selbst und nicht als vorgegeben; sie bilden sich, sie sind gebildet aus dem Innern der Filme heraus, und sind davon erst die äusserste Erscheinungsform.

Die letzte Einstellung also dieses ersten Teils der Sequenz (16) ist zugleich die erste der zweiten; Noriko und Hattori setzen sich am Meer, sie unterhalten sich eine Weile, wie vollkommen unbeschwert, stehen dann wieder auf, und gehen.
Die Sequenz im ganzen dauert 3 Minuten und 20 Sekunden – und ist wie ein stillstehender Augenblick von Glück
– und wenn es nicht dieser ihr so freundlich vertraute Hattori ist, den Noriko später heiratet – wie ihr Vater es sich wünschte – und sie?
– und wie vielleicht der Film es sich wünscht, so, dass selbst an Norikos Hochzeitstag die brautgewandete Noriko zu sehen ist aber nicht der Bräutigam sondern der Hochzeitsgast Hattori
– und wenn Hattori schon länger verlobt war und nunmehr schon verheiratet ist mit einem Mädchen drei Jahre jünger als sie
– während sie, Noriko, wie ihr Vater seinem Professor-Kollegen erzählt hat, erst in der letzten Zeit wieder ganz gesund geworden ist, nach der Arbeit bei der Marine während des Kriegs, und dem Schleppen von Kartoffelsäcken mit 20, 25 Kilo
– dann reicht, was gegenwärtig ist in Zeichen mit den Strassenschildern der Einstellungen (14) und (15), bis ins Innere, nie ausgesprochene Innerste dieser Erzählung, Erzählung des vergehenden Lebens hinein.
Und die erste Einstellung dieser Radausflug-Sequenz (1) hat mit der letzten des ganzen Films, die auch eine Meer-Aufnahme ist, ihren Zusammenhang.

Von einer Sendung für den Westdeutschen Rundfunk/Fernsehen, Drittes Programm, 23. Oktober 1988, Redaktion Werner Dütsch. – Für den Abdruck hier um ein Stück erweitert.
März 2003.

Der Text ist zuerst erschienen in der Zeitschrift shomingeki, Doppelnummer 13/14, Frühling/Sommer 2003. Herzlichen Dank an Helmut Färber und Rüdiger Tomczak für die Genehmigung zum Wiederabdruck.