Verfahren des filmvermittelnden Films

»Look at the way he rides with his legs stretched up!«
Arbeit mit Stills, Arbeit mit Einstellungen, Arbeit mit Sequenzen

Von Michael Baute, Volker Pantenburg

I.

Die Filme, von denen dieser Text handelt, verfolgen einen bestimmten Zweck. Sie sollen etwas erläutern, erklären, »vermitteln«, und zwar die Frage, was das ist: Film, Kino, und wie es in Einzelfällen funktioniert und was es macht. Es sind Filme, die von anderen Filmen gelernt haben und die das, was sie gelernt haben, weitergeben wollen.

[1]Ernst Lubitsch: Eine Lektion in Kino, Enno Patalas, WDR, Erstsendung im Dritten Programm des WDF am 2. Juni 1971, überarbeitete Fassung im 1. Programm der ARD am 25. April 1982. Eine Nachschrift der Sendung findet man in: Hans Helmut Prinzler und Enno Patalas (Hg.): Lubitsch, München und Luzern: C. J. Bucher 1984, S. 60-80. Die Lubitsch-Sendung wurde ebenso wie zahllose andere filmanalytische Sendungen des WDR von Werner Dütsch betreut.

Zum Beispiel: Enno Patalas' Ernst Lubitsch: Eine Lektion in Kino [1]. Der Film arbeitet mit den Filmen Lubitschs wie mit einer Bildbank. Er sammelt, reiht, verkettet, kommentiert aus dem Off. Sein Interesse richtet sich auf Reihenbildung, auf die Austauschbarkeit, darauf, dass die Figuren und Konflikte bei Lubitsch nicht psychologisch aufgefasst sind, sondern konstellativ über ihre Positionierung in Dreiecksformationen. Die Reihenbildungen Lubitschs werden wiederholt und so deren verschiedene Wiederaufnahmen und Valenzen ausgestellt. Ausstellen meint – in Lubitschs Kino und in dessen Auffassung durch Patalas' Film – nicht vorkauen, zusammenfassen, definieren, sondern die Mitteilung einer Kino-Formel, die ohne den Zuschauer unvollständig bliebe. Die Mitarbeit des Zuschauers ist Voraussetzung für deren Funktionieren. Dieser kurze Film zu Lubitsch ist eine Demonstration solch eines aktiven Zuschauens.

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»Bei Lubitsch geht es um die Möglichkeiten einer Verbindung zu dritt. Erst mit ihr eröffnen sich unendlich viele weitere Möglichkeiten.« (Patalas)

[2]Zwei Fassungen: Cinéma, de notre temps: Danièle Huillet, Jean-Marie Straub, cinéastes (F 2001, 73 Minuten, Où gît votre sourire enfoui? (F 2001, 104 Minuten).
[3]Phantombilder. Zum 100. Geburtstag des Filmregisseurs Friedrich Wilhelm Murnau, Frieda Grafe und Enno Patalas (BRD 1988), Meister der Szene. Zu vier Filmen von Josef von Sternberg, Enno Patalas (BRD 1994). Zu den Produktionen der Filmredaktion des WDR vgl. das ausführliche Gespräch, das Michael Girke mit Wer-ner Dütsch geführt hat: »Mit dem Fernsehen das Kino umarmen«, in: Funk Korrespondenz 54 (2006), Heft 39.

Es gibt viele solche Arbeiten. Man kann sie als »filmvermittelnde Filme« zusammenfassen. Sendungen im Fernsehen, Filme, Installationen, die mit den Bildern und Tönen der Filmgeschichte umgehen und dabei selbst zum Bestandteil der Filmgeschichte werden. Hartmut Bitomskys Das Kino und der Tod (BRD 1988), Pedro Costas Dokumentation über Danièle Huillets und Jean-Marie Straubs Montage ihres Film Sicilia! [2], die Hitchcock-Montage Phoenix Tapes (GB 1999) von Christoph Girardet und Matthias Müller, Sendungen für den WDR, die Enno Patalas und Frieda Grafe über Murnau oder von Sternberg gemacht haben. [3]

[4]Mehr zum WDR-Filmtip in einem Text von Ekkehard Knörer: »Dem Nachdenken eine Spielwiese«, in: taz 16.7.2007..
[5]Etwas über A Corner in Wheat (BRD 1983). Eine Flaschenpost aus der Zeit, in der es noch Programmansagerinnen gab und an Publizistik-Instituten Leute saßen, die in einer rechtlichen Grauzone mehr oder weniger systematisch das Fernsehprogramm mitschnitten.
[6]Image par Image, F 1987ff., eine von Jean Douchet koordinierte Reihe mit Analysen unter anderem zu M, Orson Welles' Citizen Kane und Jean Renoirs La règle du jeu.

Begegnungen mit diesen Filmen sind oft das Ergebnis von Zufällen oder streunender Cinephilie: Man hat den Videorecorder großzügig programmiert und nun hinter dem Film, den man aufnehmen wollte, noch einen Filmtip von Norbert Grob oder Helmut Merker mit drauf. [4] Auf der VHS-Kassette, die man sich im Medienzentrum der Uni ausgeliehen hat, sind nicht nur Griffith-Filme, sondern auch die Sendung, die Helmut Färber über A Corner in Wheat gemacht hat. [5] In einer Museums-Ausstellung über das Kino trifft man auf Harun Farockis 12 Monitore zum Bildmotiv ›Arbeiter verlassen die Fabrik‹ (Arbeiter verlassen die Fabrik in elf Jahrzehnten, D/Ö 2006). In der Stadtbücherei findet man eine Videokassette mit einer 45-minütigen Analyse von Jean Douchet zu Fritz Langs M und wird dadurch auf eine ganze Reihe analytischer Filme aufmerksam. [6]

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»La règle du jeu«, aus der von Jean Douchet koordinierten Reihe »Image par Image« (F 1987)

Diese Arbeiten haben etwas miteinander zu tun. Sie kommunizieren miteinander. Man könnte sagen: Sie bilden ein Genre. Wenn es dies Genre des »Filmvermittelnden Films« gibt, dann ist es als solches bislang jedoch unsichtbar, es kommt weder in der Filmgeschichtsschreibung noch in aktuellen Bemühungen um Filmbildung und Filmvermittlung vor.

[7]Zum Beispiel Ekkehard Schevens Das Wunder des Films (BRD 1955), in dem mehrere Kulturfilme zu einzelnen Phasen der Filmproduktion in eine Rahmenhandlung mit dem Regisseur Helmut Käutner integriert sind.
[8]Etwa die Warner-Production A Trip thru a Hollywood-Studio, USA 1935, Regie: Ralph Staub, die einen Überblick über die Studiolandschaft zu Beginn der 30er Jahre inszeniert, um dann an einem Warner-Set zu landen, auf dem Busby Berkeley gerade eine Choreographie einstudiert.
[9]Ein Beispiel aus dem amerikanischen Arthouse-Zusammenhang ist die vom TV-Sender Sundance Channel für das Fernsehen und die DVD-Auswertung produzierte Serie Anatomy of a Scene, in der die Herstellung einer Szene eines aktuellen Kinofilms in Gesprächen mit den Machern rekonstruiert wird.

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Ekkehard Schevens »Das Wunder des Films« von 1955.

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»Und sie hab ich doch schonmal gesehen, he?« – »Ja, das wäre möglich. Ich habe nämlich schonmal mit gedreht. Zuletzt bei Zarewitsch.« – »Ah, und jetzt lässt’s Sie nicht mehr los. Bravo, weitermachen.«

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»Und dann muss man wissen, was ›Film‹ und was ›filmisch‹ ist. Es wird so wahnsinnig viel über das Thema geschwätzt.« (Helmut Käutner)

Einen filmvermittelnden Nebenstrang der Filmgeschichte hat es immer gegeben. Wenn man ihn weit fasst, enthält er filmologische Lehr- und Kulturfilme, [7] industrieaffine Kino-Werbefilme wie die frühen »Making Ofs« [8] ebenso wie die unzähligen TV-Formate, die um Filmemacher, Schauspieler, Stars und Genres kreisen, um deren Marktwert zu verzinsen. [9] Vorformatierte Beiträge in Kino- und Kultursendungen, redaktionell aufbereitete Video-Presskits zum Kinostart, kulturbetriebige Relevanzbehauptungsbeiträge zu Debattenfilmen, Regisseur-Porträts zum Todestag, Schauspielerbiographien mit Zeugnissen von Mitarbeitern und Filmhistorikern. Alle diese Formate haben etwas mit dem Kino und seinen Ausprägungen zu tun. Ihnen ist gemeinsam, dass sie - jedenfalls potentiell - einen direkteren Kontakt zum Material der Filme haben als Texte. Denn das zu Beschreibende und die Beschreibung finden im gleichen Medium statt.

II.

Drei Ausprägungen des »Filmvermittelnden Films«: Helmut Färbers Drei Minuten in einem Film von OZU von 1988, Alain Bergalas Le cinéma. Une histoire de plans von 1998, verschiedene Analysen Tag Gallaghers aus den letzten fünf Jahren. Das Kino ist in diesen drei Ansätzen in unterschiedlichen Konzentrationen enthalten. Helmut Färber beschränkt sich darauf, Standfotos aus Ozus Banshun (J 1949) zu arrangieren und mit zurückhaltender Insistenz zu kommentieren. Alain Bergalas Serie Le cinéma. Une histoire de plans, frei zu übersetzen mit »Das Kino. Eine Frage der Einstellung«, hat in jeder Folge nur eine einzige Einstellung zum Gegenstand. Anders als Färber und Bergala arbeiten Gallaghers Analysen mit dem kompletten Material nicht nur eines Films, sondern oft auch mit Sequenzen aus anderen Filmen. Mit diesen drei Analysegegenständen - Einzelbild, Einstellung, montierte Sequenz - sind zugleich drei Grundbausteine filmischen Arbeitens benannt.

III.

[10]Im Einzelnen: Baukunst und Film (45 Minuten, 1976), Fantasia (Beitrag zur Reihe »Kino 78«; 9 Minuten, 1978), Etwas über A Corner in Wheat (1983), Erich von Stroheim zum Gedächtnis (12 Minuten, 1985), Robert Bresson zum 80. Geburtstag (12 Minuten, 1987), Drei Minuten in einem Film von OZU, kommentiert von Helmut Färber (15 Minuten, 1988), Dr. Cordelier und Professor Alexis. 2 x Jean Renoir (20 Minuten, 1989), Anmerkungen zu Eisensteins Oktober (10 Minuten, 1995).

Drei Minuten in einem Film von OZU ist eine von acht Sendungen, die Helmut Färber zwischen 1976 und 1995 für die Filmredaktion des WDR produziert hat. [10] Sie wurde am 23. Oktober 1988 ausgestrahlt und beginnt mit einer sachlich grauen Tafel, darauf in weißen Buchstaben der Titel. Helmut Färbers Name ist nicht mit dem Zusatz »Autor« oder »Regisseur« versehen, sondern folgt auf die Worte »kommentiert von«. Das ruft eine ganze Tradition des – religiösen und säkularen – Kommentierens auf und sagt etwas über das Verhältnis, in das sich Färber zu Ozus Film setzen will. Nicht »über« ihn sprechen und ihn sich damit unterordnen, sondern »mit« den Bildern Ozus und neben ihnen einen zweiten Text herstellen. Man kann dabei an Alexander Kluges Aussage denken, dass der Kommentar »die Grundform der Texte« sei. Auch Ozus Film wird im Weiteren als ein Kommentar erkennbar - etwa als Kommentar zur japanischen Gesellschaft, in der er 1949 entstand.

[11]Der Text von Färbers Sendung ist – durchgesehen und erweitert im März 2003 – in der Zeitschrift »shomingeki« nachzulesen: Helmut Färber: »Drei Minuten in einem Film von Ozu«, in: shomingeki 13/14, Frühling/Sommer 2003, S. 9-15.

Die Sendung ist in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt sitzt Färber an einem Schreibtisch im Fernsehstudio: In das Dispositiv »Fernsehstudio« ist ein zweites Dispositiv »Schreibtisch« oder »Arbeitsplatz« eingelassen. »Ein Film ist ein Ganzes, das aus vielen einzelnen Filmaufnahmen besteht. Ich möchte jetzt ein Stück aus einem Film etwas näher ansehen, wie jemand sich auch die Beschaffenheit einer Architektur näher ansehen kann.« [11]

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Der Ausschnitt, der Radausflug von Noriko und dem Assistenten, wird dann vollständig gezeigt; dem folgt ein Schnitt und der zweite, mit Abstand ausführlichste Block von Färbers Analyse beginnt. Wir sehen einen leeren Raum. Hellblaue Wände, grauer Boden. Auf dem Boden ist eine Bahn aus schwarzer Pappe ausgelegt. Am Saum dieser Bahn liegen, zu einer Kolumne gereiht, Fotografien, an denen die Sequenz nun beschrieben und kommentiert wird.

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In dieser Analyse gibt es ein ganz einfaches Verfahren, einen Handgriff eigentlich, um das Untereinander der Bilder, das der zeitlichen Abfolge des Filmstreifens entspricht, in den räumlichen Aufbau dieses Filmes zu überführen: Dass Noriko rechts und der Assistent links fährt, veranschaulicht Färber dadurch, dass er die Fotos für einen Moment lang aus der vertikalen Anordnung herausnimmt und so nebeneinander legt, wie die beiden nebeneinander auf der japanischen Landstraße fahren.

In diesem zweiten Teil der Sendung gibt es ein anderes körperliches Verhältnis zu den Bildern als in der Schreibtischsituation. Färber bewegt sich hockend an den Bildern entlang, weist auf Details und Strukturen hin. Das Dispositiv handelt vom Begreifen und der Verhältnissetzung des Betrachters zu den Bildern. Färber agiert selbst im Bild und ist damit erkennbar als Wahrnehmender und Zeigender.

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Der dritte und letzte Teil der Sendung etabliert erneut ein anderes Verhältnis zwischen dem Kommentator Färber und den kommentierten Bildern Ozus. Die Fotos sind jetzt in ein Koordinatensystem an der grauen Studiowand überführt. Es sind zwei Kolumnen entstanden, bei denen sich die gleichen Einstellungstypen jeweils auf der gleichen Höhe befinden. Färber jetzt nicht mehr sitzend oder hockend, sondern vor den Bildern stehend wie vor einer Aby Warburgschen Bildtafel, an der er mit dem Stift auf Einzelnes hindeutet: »Wenn man das Stück im Ganzen betrachtet, dann zeigt sich, dass es aus nur zwei Typen von Einstellungen, Bildern, Cadragen gebaut ist. Aus den Nahaufnahmen, die ganz gleichbleibend sind, und aus den Totalen, zwischen denen einerseits eine Art von Grundähnlichkeit besteht, und zwischen denen andererseits diese verschiedenartigen Entsprechungen, Korrespondenzen bestehen. Die Totalen sind für die Nahaufnahmen eine Art von Rahmen«.

Das Filmstück (Färber sagt einmal »Stück«, so wie man von einem Musikstück sprechen würde) wird in der Sendung insgesamt drei Mal vollständig durchschritten. Es ist ein Fragment, ein Stück aus diesem Film, aber dieses Stück wird wiederum als Ganzes sichtbar gemacht.

[12]Ebd., S. 15.

In diesen drei Durchgängen sind auch verschiedene Abstraktionsstufen erkennbar; eine buchstäblich schrittweise Übersetzung des Films selbst (als Ausschnitt) in Anmerkungen zur Proportionalität und Bauweise, zur filmischen Architektur, die in diesem Film enthalten sind. In der späteren Version des Kommentartexts fasst Färber dies so: »[...] diese so evidenten Ordnungen, Anordnungen in den Filmen von Ozu, die so anschaulich leicht sich schematisieren lassen, und in welchen immer etwas Befreiendes sich mitteilt, sie bestehen in diesen Filmen nicht für sich selbst und nicht als vorgegeben; sie bilden sich, sie sind gebildet aus dem Innern der Filme heraus, und sind davon erst die äußerste Erscheinungsform.« [12]

IV.

[13]Einige kommerzielle französische DVD-Firmen, die häufig »Filmvermittelnde Filme« für das Bonusmaterial ihrer Filme produzieren lassen: Carlotta Films, Editions Montparnasse, mk2, Studio Canal. In Deutschland macht insbesondere »Kinowelt« analytische Filme im Bonusmaterial zugänglich; zum Beispiel mit Arbeiten zu "Wilde Erdbeeren" von Ingmar Bergmann und "Verfolgt" von Raoul Walsh, die Winfried Günther vom Frankfurter Filmmuseum erstellt hat: "Action, action, action - logische Dinge in logischer Abfolge". Aspekte der Inszenierungsweise von Pursued. (BRD 2005); »Ein Traumspiel. Ingmar Bergmans Film Smultronstället« (BRD 2006).
[14]Arbeiten zu John Ford (Stagecoach, She Wore A Yellow Ribbon, The Informer), Roberto Rossellini (Il Messia; Francesco, guillare de Dio), Max Ophüls (Letters From An Unknown Woman, Madame de), Otto Preminger (Angel Face), Howard Hawks (The Big Sky).

Im letzten Jahrzehnt haben sich DVD-Veröffentlichungen zu einem neuen Produktionsanlass für filmanalytische Arbeiten entwickelt. Vor allem in Frankreich sind zahlreiche solcher Autorenanalysen entstanden. [13] Tag Gallagher, dessen Texte schon früh einen individuellen Umgang mit Filmbildern zeigten, ist einer der produktivsten Kommentarfilmautoren. Seine inzwischen elf Arbeiten sind auf französischen, britischen und deutschen DVDs zu finden. [14] Gallagher arbeitet von Film zu Film mit unterschiedlichem Material – Produktionsfotos, Archivaufnahmen, Buchumschläge, Zeitungsausschnitte, hervorgehobene Zitate als Schrifttafeln, Exzerpte aus anderen Filmen des Regisseurs. Hinzu kommen verschiedenartige Eingriffe in die Bilder des Films selbst.

Vor allem in Tempo und Rhythmus unterscheiden sich Gallaghers Analysen von denen aus Frankreich und Deutschland. Dort werden häufiger Kunstpausen gemacht, annonciert durch Schwarzbilder mit Kapitelüberschriften oder durch Tonwechsel der Stimme. Die Arbeit mit deutlichen Zäsuren mag dem akademischen Hintergrund vieler der Autoren entsprechen. Gallagher dagegen arbeitet mit Überlagerungen und Wiederholungen, um Elemente des Films aus der zeitlichen, linearen Basis herauszulösen und ihre Stellung im Zusammenhang herauszustellen. Das führt oft zur Bildung von wiederkehrenden Motivketten: Tanzende oder in Leeren Blickende bei Ophüls, Singende und Prügelnde bei Hawks...

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Tag Gallagher: Triumph of Passion

[15]Manny Farber: White Elephant Art vs. Termite Art [1962], in: Ders.: Negative Space. Manny Farber on the Movies, New York: da Capo Press S. 134-144.

Nach und nach entsteht dabei eine eigene rhythmische Qualität des Kommentars. Film und Kommentar entwickeln ein Verhältnis zueinander, das sich immer weiter von dem von Illustration und These entfernt. Es entstehen eigene Einheiten, »Gespräche« mit Einstellungen und Motiven eines Regisseurs. Der Film wird zu einem aktiven Gegenüber. Dabei findet häufig eine Autorenzuschreibung statt, die den ‚auteurist’ Gallagher kenntlich macht. Die Aufladung mit der persönlichen Rezeptionsgeschichte verleiht den Analysen ihre Bewegungsenergie. Auch in den unterschiedlichen Tonstimmungen ist der Produktionsverlauf von Gallaghers Arbeiten spürbar. Mal ist er nah, mal weiter entfernt vom Mikrophon, der Pegel ist nicht gleichförmig und normalisiert. Was man für Unachtsamkeit gegenüber der Kommentar-Tonspur halten könnte (verspätete Einsätze, unterschiedliche Dynamik), korrespondiert mit einer eigentümlichen Synchronisation von Bild, Einstellung und Szene, sowie der Einarbeitung zusätzlichen Materials. Man ist erinnert an Manny Farbers »Termite Art«, der Vorstellung eines unabhängigen Kinos, das kanonische Regeln mittels seiner Beweglichkeit unterläuft und in Frage stellt. [15] Oft ist es bei Gallaghers Filmen nicht möglich, seine Schnitte von denen des besprochenen Films zu unterscheiden. Nie wird der Gegenstand durch Gesten der unterwürfigen Bescheidung auratisiert. Im Gegenteil: Gallagher eignet sich die Einstellungen des Films und deren semantische Bewegungen offensiv an.

Immer geht Gallagher davon aus, dass die behandelten Filme Einstellungen und Haltungen zum Leben der Menschen zum Ausdruck bringen. So ist A Ribbon on the Land. John Ford’s She Wore a Yellow Ribbon ein Film über Motive Fords, Charaktere mit Geschichte, die Rolle des Landes, des Todes (Fords Filme als ein Protest gegen den Tod), der (militärischen) Formalitäten und Rituale, die sich gegen das Land stellen und es - »ökologisch wie formal«, so eine der nebenbei fallen gelassenen Pointen Gallaghers - erobern. Der Film verknüpft Beobachtungen, wiederholt, bisweilen exzessiv, kleine Ausschnitte (so am Anfang viermal hintereinander das Hissen der Flagge, so in der Mitte sechsmal der militärische Gruß Waynes). Daran lagern sich kleine, scheinbar abweichende Beobachtungen an - »Look at the way he rides with his legs stretched up!« -, die in der Summe Fords Aufmerksamkeit für Eigenheiten und Typisierungen nachbilden.

V.

[16]Bergala ist auch Initiator der für den schulischen Gebrauch konzipierten DVD-Reihe L’eden cinéma. Sie ist auf 100 DVDs angelegt, die mit unterschiedlichstem Material zum Einsatz im Schulunterricht ausgestattet sind. Vgl. die Website der Kinosektion der Abteilung für Kunst und Kultur des Scéren/CNDP.
[17]Die Analysen, die auf den DVDs der Reihe L’eden cinéma enthalten sind, können daher nicht normal im Handel gekauft werden, sondern sind über pädagogische Distributionskanäle zu erhalten – zum Beispiel in der »Librairie de l'éducation« in Paris. Zugrunde liegt dem oft ein Tauschgeschäft: Die Lizenz, die Bilder zu benutzen, wird dagegen eingetauscht, dass die Produktionsfirmen die »Filmvermittelnden Filme« ihren kommerziell ausgewerteten DVDs als Bonus beigeben dürfen.
[18]Das staatliche Programm »Ecole et cinéma« existiert seit 1994 und wird von der Vereinigung »Les enfants de cinéma« betreut. Informationen dazu, auch zur Erhältlichkeit von Bergalas Une histoire de plans, auf der Website. Man muss allerdings präzisieren, dass die Serie ursprünglich – auf deutlich mehr als 12 Beiträge ausgelegt – als Beitrag zum 100. Geburtstag des Kinos gedacht war und im Fernsehen hätte ausgestrahlt werden sollen. Erst Schwierigkeiten mit der Produktionsgesellschaft AGAT films führten dazu, dass »Les enfants de cinéma« als Co-Produzenten einsprangen.

Alain Bergala ist die zentrale Figur der französischen Filmvermittlung. Durch die Übersetzung seines 2002 auf französisch erschienen Essays »L’hypothèse cinéma« ist seine Ausarbeitung filmpädagogischer Konzepte auch im deutschsprachigen Raum bekannt geworden. Weniger bekannt sind seine Arbeiten als Autor und Produzent von unterschiedlichen »Filmvermittelnden Filmen«, die seit zehn Jahren parallel und komplementär zu seiner institutionellen Arbeit entstanden sind, unter anderem zu Fritz Langs Moonfleet, Jean Eustaches Mes petites amoureuses, Kiarostamis Wo ist das Haus meines Freundes? oder Jean Rouchs Chronique d’un été. [16] Dass solche Analysen entstehen können, ist heute noch immer eine Frage des Verhandlungsgeschicks. Im Hintergrund drohen rechtliche Schranken, Verbote, Eigentumsansprüche auf die Bilder und Töne. Um mit dem Material der Filme zu arbeiten, muss man bezahlen, auch wenn es im Zusammenhang pädagogischer Vermittlungsarbeit geschieht. [17] Schon 1998, vor seiner bildungspolitischen Zusammenarbeit mit dem damaligen Kulturminister Jack Lang, hat Alain Bergala eine zwölfteilige Reihe mit Einstellungsanalysen einzelner Filme konzipiert, geschrieben und in Szene gesetzt: Le cinéma. Une histoire de plans. Die Reihe ist im Rahmen der staatlich geförderten Bildungsinitiative »Ecole et cinéma« entstanden. [18]

[19]Einstellungsanalysen stehen auch im Zentrum der zahlreichen »Filmvermittelnden Filme« von Jean Douchet und Bernard Eisenschitz.
[20]Alain Bergala: Kino als Kunst. Filmvermittlung an der Schule und anderswo, hg. von Bettina Henzler und Winfried Pauleit, aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Marburg: Schüren 2006, S. 88.

Die Prämisse von Le cinéma ist, dass sich wie aus einer chemischen Stichprobe aus einer einzigen Einstellung eines Films etwas lernen und erkennen lässt, das über diese Einstellung hinausweist; dass darin Kino- und Zeitgeschichte anwesend sind und im Dialog herauspräpariert werden können. Für Bergala wie für andere französische Filmtheoretiker ist die Einstellung eine zentrale Einheit. Es gibt ein ganzes Arsenal organizistischer Metaphern bei Daney, Deleuze und anderen, in denen die Einstellung mit dem Übergang vom Toten zum Lebendigen verbunden wird. [19] In diesem Sinne nennt Bergala sie einmal »die kleinste lebendige Zelle des Films« und plädiert dafür, »sich dem Kino von der Einstellung her anzunähern, da sie für mich in ihrer Zeitlichkeit, ihrem Werden, ihrem Rhythmus [...] ein relativ autonomer Bestandteil des großen Körpers Kino ist.« [20]

[21]Die übrigen Analysen beziehen sich auf jeweils eine Einstellung aus den folgenden Filmen: Moonfleet (USA 1995, R.: Fritz Lang), Peau d’Âne (F 1970, R.: Jacques Demy), Le passager (Iran 1974, R.: Abbas Kiarostami), Les gosses de Tokyo (J 1932, R.: Yasujiro Ozu), Ladri di biciclette (I 1948, R.: Vittorio de Sica), La règle du jeu (F 1939, R.: Jean Renoir), Vivre sa vie (F 1962, R.: Jean-Luc Godard), Les vacances de M. Hulot (F 1953, R.: Jacques Tati), La maman et la putain (F 1973, R.: Jean Eustache).

Die ersten drei Folgen der Serie haben Filme der Lumière-Brüder zum Gegenstand L’Attelage d’un camion (1896), La petite fille et son chat (1900) und Le faux cul-de-jatte (1896). Bei diesen und den übrigen Folgen aus 80 Jahren Filmgeschichte [21] ist die Spielregel immer dieselbe. Eine Einstellung des Films (bei den Lumière-Filmen heißt das zugleich: der gesamte Film) wird zu Beginn einmal vollständig und ohne jeden Zusatz gezeigt. Dann schließt sich der Hauptteil, die analytische oder vielleicht eher: beschreibende Arbeit mit dieser einen Einstellung an. Man sieht auch weiterhin, über einen Zeitraum von 8 bis 10 Minuten, lediglich diese eine Einstellung, nun allerdings teilweise angehalten, verlangsamt, beschleunigt, vor- oder zurückgespult. Diese fünf Modi entsprechen den möglichen Operationen an einem 16- oder 35mm-Schneidetisch; sie sind die einzigen Eingriffe. Geschrieben hat die immer dialogisch, als Gesprächssituation konzipierten Off-Texte Alain Bergala, aber gesprochen werden sie von jeweils zwei Schauspielern, einem Mann und einer Frau. Bei der Analyse von L’Attelage d’un camion sind das Michel Piccoli und Fanny Ardant. Dass es französische Schauspieler sind, die man oft unmittelbar mit der Nouvelle Vague assoziiert (Anna Karina, Michel Piccoli, Bulle Ogier etc.), ruft nicht nur einen bestimmten Kino-Kanon auf. Es heißt auch, dass hier die Filmgeschichte selbst über die Filmgeschichte spricht.

Die Filmgeschichte verlebendigt sich, und diese Lebendigkeit überträgt sich auf den Umgang mit den Bildern, bis nicht mehr klar ist, wer wen belebt: Die Bilder das Sprechen über sie, oder das Sprechen die Bilder. Dies hängt mit den Tonlagen von Bergalas Text zusammen. Man scheint es mit einer ganz unangestrengten Plauderei zu tun zu haben, jeder Didaktik unverdächtig. Flanierende, durch das Bild streunende Beobachtungen, wechseln sich ab mit überraschenden Ableitungen zum Kino. In der Folge zu Tatis Les vacances de M. Hulot etwa führt eine Beobachtung zu den Möglichkeiten von On- und Off in Bild und Ton überraschend zu Anmerkungen zur soziologischen Beschaffenheit Frankreichs in den 50er Jahren. Ähnlich unterschiedliche Beobachtungen werden auch beim Stück zu L’Attelage d’un camion gemacht:

Ardant Die Pferde kommen eins nach dem anderen in das Bild hinein und durchqueren es dann durch die ganze Bilddiagonale hindurch. Als er anfing, die Handkurbel zu drehen, als das erste Pferd im Bild ist, muss er berechnet haben, dass nach 50 Sekunden alle Pferde durch das Bild sein sollten.

Piccoli Hinzu kommt noch die Höhe der Kamera. Es ist die perfekte Höhe, um zu sehen, wie ein Pferd läuft. Wo sind die Muskeln, was machen die Hinterläufe, man sieht das Auftreten der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster.

Lumière »Attelage d'un camion«

Ardant Ist Dir klar, was man alles in einer einzigen Sekunde über das Frankreich vor einem Jahrhundert herausfinden kann? Das ist wie eine Stichprobe. Und durch diesen Zufall hat man sogar einen perfekten Querschnitt, der alle Teile der Bevölkerung enthält und zugleich alle Transportmittel. Man glaubt fast an eine Inszenierung, so vollständig ist das Bild.

[22]Roland Barthes: Lernen und Lehren [1975], in: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 202-205: 203.

Dieser vertrauliche und persönliche Tonfall verbindet in unterschiedlichen Intensitäten alle zwölf Folgen von Le cinéma. Une histoire des plans. Einige Folgen kreisen fast vollständig um eine einzige Frage. An einer Einstellung von Godards Vivre sa vie wird entwickelt, ob man, um angemessen eine Großaufnahme einer Schauspielerin machen zu können, in sie verliebt sein muss. Gegenüber der quälenden Schlusseinstellung von Jean Eustaches La maman et la putain tritt Bergala fast vollständig als Autor zurück, um Michael Lonsdale und Bulle Ogier im Modus des sich erinnernden Sprechens die Kontexte von 1968 und den Jahren darauf einholen zu lassen. Über die Möglichkeiten einer nicht autoritären Didaktik nach 1968 schreibt Roland Barthes einmal: »Es gibt vielleicht zwei Mittel, das Beherrschen zu vermeiden (geht es heute im Unterrichtswesen und in jeder intellektuellen ‚Rolle’ nicht gerade darum?): entweder einen löchrigen, elliptischen, driftenden und abgleitenden Diskurs hervorzubringen; oder, umgekehrt, das Wissen mit einem Übermaß an Klarheit zu befrachten.« [22]

[Der Text wurde zuerst publiziert in der Ausgabe 8 der österreichischen Zeitschrift kolik.film. Er erscheint hier aktualisiert und leicht verändert. Wir danken der Redaktion für die Genehmigung zum Wiederabdruck]