Filmvermittlung und Cinéphilie: Alain Bergala

Siehst Du?
Über Alain Bergalas »Le combat avec l’ange«

Siehst Du?

Über Alain Bergalas »Le combat avec l’ange«
[1]Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam, 2. Aufl. 1920, S. 142

Nicht, um selbst über das Menschliche hinaus zu kommen, müssen wir mit dem Engel kämpfen, sondern nur, um ins kleinste Blutkörperchen hinein das Menschliche ganz erfüllen zu können. [1]

Im Off-Kommentar seiner Analyse von Jean Eustaches Mes petites amoureuses richtet sich Alain Bergala unmittelbar an eine andere Person: Gleich in seinem ersten Satz fragt er rückversichernd: «Siehst Du ?». Insgesamt viermal taucht dieses »Du« in der 16-minütigen Arbeit auf, etliche Male häufiger spricht Bergala in der ersten Person singular. Es geht also um intime Verhältnisse. Der verbale Zeigefinger deutet an, dass dem zärtlichen Duzen auch eine sanfte Hierarchie unterlegt ist: Deixis als eine Form von Wissenstransfert setzt Erfahrungsvorsprung voraus. Doch die Hierarchie bezeichnet ein Gefälle nach beiden Seiten. Neben der Ungleichheit zwischen Sehendem und (Noch-)Nicht-Sehendem schlägt auch jene zwischen Liebendem und (Noch-)Nicht-Liebendem zu Buche. Wer offen legt, was ihm am Herzen liegt, muss ein Risiko einkalkulieren: Je größer die Bedeutung des geschilderten Ereignisses für die eigene Person, desto kränkender das etwaige Desinteresse am Angebot, die von diesem Ereignis ausgelösten Gedanken teilen, mitteilen zu wollen.

Bergala setzt sich dieser Gefahr ohne zu zögern aus. Rasch konstruiert er eine Kette, die den Verdacht im Handumdrehen zerstreut, der hier »ich« sagt, könne Nabelschau im Sinn haben. Es kommt Bergala auf den Zusammenhang zwischen Erleben, Sehen, Zeigen und dem Entstehen neuer Kunst an. Seine Empathie für Eustaches Film lenkt er weiter auf Eustaches Kino-Gedächtnis. In einer ausführlichen Sequenz leitet Bergala eine Szene (im Grunde: zwei Szenen; s.u.) von Mes petites amoureuses her aus einer Szene in Robert Bressons Pickpocket. Dabei nimmt er den Begriff der Parallelmontage wörtlich und vergleicht in einem vertikalen Split Screen – also in einem Bild, das aus zwei übereinander gelegten Bildstreifen besteht (im Gegensatz zum üblichen horizontalen Split Screen, in dem mehrere Bilder nebeneinander angeordnet sind) – die Ins-Bild-Setzungsstrategien zweier Erstlingserfahrungen. Es wird buchstäblich zur Anschauung gebracht, welche Verfahren sich Eustache bei Bresson abgeguckt hat, aber auch, wo er andere Absichten verfolgt, also andere Mittel eingesetzt hat. Für eine längere Zeit laufen beide Sequenzen zeitgleich übereinander ab und wir können erkennen: die selbe Frontalität der Aufnahme, die selbe Tonstrategie, der selbe mimische Ausdruck im Moment der verbotenen Tat, ein ähnliches Timing. Auch die Unterschiede kommen zur Geltung, vor allem die fixe, durchgehende Einstellung bei Bresson (gegen-)über einem mit Kamerabewegungen und Schnitten operierenden Eustache.

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Genauso, wie Bergala für Mes petites amoureuses eine Urszene aus Pickpocket seziert und sie auf zwei Szenen aufgeteilt in Eustaches Film wiederfindet (das mit Geldscheinen prall gefüllte Portemonnaie, dessen Anblick Bressons Taschendieb in Bewegung versetzt, baut Eustache, wie Bergala nachweist, in eine andere Szene von Mes petites amoureuses ein), genauso arbeitet er eine zweite Inspirationsquelle für die selbe „Mutproben“-Sequenz heraus, die ansonsten auf einer Aneignung der Pickpocket-Szene basiert bleibt: Der Junge Daniel hat sich auf dem Dorffest unter die Zuschauer einer Mädchenchor-Aufführung gemischt. Während er sich die Heimlichkeit einer unsittlichen Annäherung traut, heftet sich sein Blick – wie der aller Umstehenden – auf das Bühnengeschehen. Der dazu einmontierte Gegenschuss, das Bild von den singenden Mädchen, ist nun aber keineswegs starr; vielmehr wird es eingefangen in einer Pendelbewegung der Kamera, die ganz langsam an den kleinen Sängerinnen vorüber gleitet, von links nach rechts und wieder zurück. Bergala führt auch hier das filmische Vorbild, eine singende Gesellschaft in Carl Theodor Dreyers Film Ordet, vor, die auf die selbe Weise gedreht wurde. Bergalas Auslassungen dazu bleiben spärlich, auch um zu markieren, dass Eustaches Verhältnis zu Ordet nicht identisch ist mit seiner Beziehung zu Pickpocket. Doch auch ohne weitere Erläuterungen lässt sich erkennen, dass zwischen der abgeschauten Kamerabewegung und dem waagerechten Split Screen ein Bezug hergestellt werden kann: Bergala lässt hier kurz die Dankbarkeit aufscheinen, die Eustache wie viele Cineasten seiner Generation für Hollywood und für die epische Breite panoramischer Kinoerzählungen empfindet. Darauf reagiert Eustache in seinem Werk genauso wie auf die explizit genannten Vorbilder. Er entwickelt auch diese Form weiter, indem er ihre klassizistisch-opulenten Bilder leerräumt. Mit Reduktion öffnet er den Überwältigungsapparat für einen alternativen Rezeptionsansatz, der mehr dem Wahrnehmungsmodus der Kontemplation zuarbeitet.

Noch einmal zum Prinzip der Kette: Es sind die inneren Auseinandersetzungen von Eustaches adoleszentem Alter Ego Daniel, die Bergala den Kampf mit dem Engel nennt. Mit keiner Silbe verrät er Zusatzinformationen, die doch wie unsichtbare Stützen zur Statik seiner Argumentation beitragen. Man kann den Titel von Bergalas Arbeit nutzen, um einige weitere thematische Verbindungen aufzuspüren: Bressons erster Film, von 1943, hieß Les anges du péché (Engel der Sünde) und erzählte von zwei sehr unterschiedlichen jungen Frauen, die sich in einem Kloster kennenlernen und schwere Gewissenskonflikte um Schuld, Rache und Tod auszutragen haben. Die Dialoge hatte der Theaterschriftsteller, Romanautor und Diplomat Jean Giraudoux geschrieben, der nur ein Jahr später verstarb. Zehn Jahre zuvor hatte Giraudoux den Roman »Combat avec l’ange« (»Kampf mit dem Engel«) veröffentlicht, die Geschichte einer jungen, lebensfrohen, aber oberflächlichen Frau aus der sog. Neuen Welt (Argentinien), die sich in Frage zu stellen beginnt als sie sich in einen Intellektuellen klassischer europäischer Prägung verliebt.

Engelhaftes ebenfalls auf einem Filmplakat, das in Mes petites amourseuses und auch in Berggalas Le combat avec l’ange zu sehen ist: Im gleichen Jahr, in dem Giraudoux’s Roman erscheint, kommt auch Marcel Pagnols Jean Giono-Verfilmung Angèle in die französischen Kinos. Sie handelt von einer provencalischen Unschuld, die von einem Großstädter in die Prostitution getrieben wird und wieder in den Schoß der ländlichen Familie zurückkehren soll. Letztlich wurzelt das Thema vom Kampf mit dem Engel in der Mythensammlung des Alten Testaments (Erstes Buch Mose (Genesis), Kapitel 32, Vers 23-33): ein Sinnbild des Widerstreits des Menschlichen mit dem Göttlichen, des immerwährenden Kampfes mit dem Glauben; aber auch die Allegorie eines Reifeprozesses - in der Bibel jedenfalls bringt der Kampf mit dem Engel dem Jakob, Sohn Isaaks, neben einer ausgerenkten Hüfte einen neuen Namen ein: Gottesstreiter, hebräisch: Israel.

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[2]Wer der Gesegnete des Geistes sein will, muss um den Segen kämpfen. Rubiner, a.a.O.

Rembrandt Harmensz. van Rijn:

Jakobs Kampf mit dem Engel (1659) [2]

Öl auf Leinwand, 137 × 116 cm; Berlin, Gemäldegalerie

Filmografie