Filmvermittlung und Filmpädagogik

»Gosses de Tokyo« (»Ich wurde geboren, aber...«) – ein Film von Yasujiro Ozu (Japan 1932)
Dialogtext aus Alain Bergalas »Le cinéma, une histoire de plans«

Gesprochen von Anna Karina und Tchecky Karyo

Anna Karina Siehst du, anscheinend passiert fast gar nichts in dieser Einstellung. Nur kleine, ganz alltägliche Dinge.

Tchecky Karyo Ja, das ist nichts weiter als ein Vater, der Reisbällchen mit seinen Söhnen teilt.

Anna Karina Und dennoch steht dabei enorm viel auf dem Spiel. Aber alles passiert durch Gesten und Blicke. Die Emotion vermittelt sich durch winzig kleine Dinge. Das gefällt mir sehr.

Tchecky Karyo Die beiden Jungen wirken sehr eingeschnappt und maulig, oder?

Anna Karina Ihr Vater ist ein Büroangestellter und sie wohnen in einem Vorort. Gleich neben dem Chef. Am Vorabend hat sich etwas Schreckliches für sie ereignet, das ihre Beziehung zu dem Vater betrifft. Sie haben gesehen, wie der Vater, den sie so bewundern, sich in einem 8-Milimeter Film zum Hanswurst gemacht hat, den der Chef seinen Freunden vorspielt. Die Eingeladenen des Chefs haben ganz offen über ihn gelacht. Die Kinder waren Zeugen der Feigheit des Vaters vor seinem Chef. In einem einzigen Moment ist ihnen klar geworden, was soziale Unterwerfung bedeutet. Das Bild ihres Vaters ist davon erschüttert worden, und deshalb haben sie sich entschieden, in Hungerstreik zu treten. Sie protestieren gegen die öffentliche Herabsetzung ihres Vaters. Am Vorabend haben sie sich ganz offen gegen ihn gewandt.

Tchecky Karyo Wie hat der Vater reagiert?

Anna Karina Er hat ihnen den Hintern versohlt. Um die Revolte in den Griff zu bekommen. Dann, als sie im Bett waren, hat er angefangen zu trinken. Das tut er sonst nie. Denn er hat verstanden, dass seine Kinder Recht hatten. Das sagt er dann auch zu seiner Frau. Jetzt ist der Morgen nach dieser Krise. Die Jungs haben sich in den Garten gesetzt und trotzen. Er hat ihnen Reisbouletten gemacht. Der Kleine hat abgebissen und schon eine gegessen. Der Vater kommt aus dem Haus und setzt sich neben sie. Die beiden verstecken natürlich die angefangenen Reisbällchen, denn sie wollen nicht zugeben, dass sie dem Hunger nachgegeben haben.

Tchecky Karyo Zu Beginn der Einstellung ist der Vater noch nicht an seinem festen Platz im Bild, er setzt sich gerade erst hin. Aber dennoch hat schon seinen Platz in der Komposition des Bildes. Auf den Millimeter genau, wie stets bei Ozu. Stell dir vor, wir befinden uns im Jahre 1932 aber er hat schon diese berühmte Kamerahöhe gefunden, die alle seine Filme auszeichnet. Immer ein bisschen unterhalb der Blickachse. Selbst die Kinder filmt er aus einer leichten Froschperspektive. Hier war das nicht leicht. Er musste den Vater und die Kinder in der selben Kadrierung halten. Hast du gesehen, der Vater passt gerade so eben ins Bild.

Anna Karina Aber siehst du, während des gesamten Films spielt Ozu mit der Ähnlichkeit im Verhalten der beiden Brüdern. Der ältere ist der mit der weißen Mütze. Er steht natürlich über seinem kleinen Bruder. Der Jüngere beobachtet ihn ständig und imitiert ihn. Das ist eine alte Technik der Komik. Der Kleine, der den Größeren mit einem kleinen zeitlichen Abstand nachmacht. Auch Ozu verzichtet nicht darauf und es funktioniert.

Tchecky Karyo Auch durch die Pflanze hinter ihm hat man den Eindruck, dass der große Bruder ganz störrisch ist.

Anna Karina Aber die Cleverness besteht darin, den Kleinen neben den Vater gesetzt zu haben. Er ist der Schwächere wenn es darum geht, essen zu wollen. Er untersteht auch am meisten der Autorität des Vaters. So wird er zwangsläufig zu einem stummen Vermittler.

Tchecky Karyo Das ist eine fantastische Präzision der Gesten. Das ist gleichermaßen winzig und unglaublich orchestriert. Man bräuchte zwei Seiten Dialog, um das gleiche über die Beziehungen der drei Personen zu erzählen. Man sieht die unglaubliche Sparsamkeit des Ausdrucks, die sich der Stummfilm zu Eigen gemacht hat. Lass uns das einmal in der Zeitlupe anschauen. Erster Schritt: Der Vater schaut den Jüngeren an und ermuntert ihn, ein Reisbällchen zu nehmen.

Anna Karina Zweiter Schritt: Der Jüngere will sich nicht gegen seinen Bruder stellen. Er stößt ihn mit dem Ellenbogen an. Der Ältere macht eine Kopfbewegung, aber die geht nicht bis zum Ende. Er dreht sich wieder um und nimmt wieder seine Abwehrhaltung ein. Er verbarrikadiert sich. Der erste Versuch der Versöhnung ist gescheitert. Alles muss von Neuem beginnen.

Tchecky Karyo Dritter Schritt: Der Vater fängt noch mal bei Null an. Geduldig, ruhig. Er zeigt dem Jüngeren noch mal das angefangene Reisbällchen. Der nimmt es, aber führt es nicht zum Mund. Er wartet ab.

Anna Karina Vierter Schritt: der Vater nimmt sich nun selbst ein Reisbällchen und wartet seinerseits. Alle müssen zur gleichen Zeit bereit sein. Er will nicht derjenige sein, der die Bewegung ins Rollen bringt.

Tchecky Karyo Fünfter Schritt: Der Jüngere stößt erneut seinem Bruder mit dem Ellenbogen an. Der Ältere dreht seinen Kopf, aber dieses Mal geht die Geste bis zu Ende. Er schaut seinem Vater in die Augen. Er entscheidet sich schließlich für die Versöhnung. Er nimmt nun auch ein Reisbällchen aus dem Teller.

Anna Karina Er zeigt natürlich dennoch einen großen Unwillen.

Tchecky Karyo Ja, aber das ist um das Gesicht zu retten. Und um den beiden anderen zu zeigen, dass es ein Zugeständnis ist und kein Zurückweichen.

Anna Karina Aber genau da wird es genial. Sechster Schritt: Sie führen gemeinsam die Reisbällchen zum Mund. Aber sie sind noch nicht ganz und gar synchron. Die Geste ist wie eine Welle von hinten nach vorne. Erst der große Bruder, dann der Kleine und schließlich der Vater. Als sie den Arm wieder senken, sind sie auf perfekte Weise synchron.

Tchecky Karyo Ozu gelingt es etwas sehr Abstraktes zu zeigen. Die wieder gefundene Harmonie so einfach und so konkret wie möglich. Sie haben in der primitivsten Geste der sozialen Gruppe wieder zusammen gefunden: gemeinsam essen.

Anna Karina Ja, aber es gibt keine Unterordnung des Sohnes unter den Vater. Der Vater beobachtet nur. Er ist es, der den Moment abwartet, um synchron mit seinen Kindern zu werden. Das ist wundervoll, diese Milde in der Szene. Wir befinden uns nicht mehr in Beziehungen von Autorität oder Gewalt.

Tchecky Karyo Hast du das Bild gesehen? Wir sind draußen offensichtlich in einem offenen Raum, aber es gibt auch eine Art geschlossenen Raum, wie eine Innenarchitektur mit den elektrischen Leitungen und der Wäscheleine. Er hat ein wirkliches Bild im Bild geschaffen.

Anna Karina Und dennoch gibt es in dieser Einstellung, die so ganz und gar beherrscht wirkt auch den Zufall, das Unvorhergesehene.

Tchecky Karyo Wo denn?

Anna Karina Schau dir gut die Hemden an, die dort zum Trocknen aufgehängt sind. Siehst du, wo sie zu Beginn der Einstellung sind? Dann, im Laufe des Drehens wird der Wind stärker und die Hemden rutschen auf der Leine und sind am Ende auf der anderen Bildseite.

Tchecky Karyo Das ist wirklich großes Kino. Die absolute Beherrschung mit einem Teil, der der Realität überlassen ist, dem Zufall, dem was die Welt mit sich bringt, dem Wind, der die Formen verändert.

Filmografie

Le cinéma, une histoire de plans