Verfahren des filmvermittelnden Films

»Le faux cul-de-jatte», ein Lumière-Film (F 1896)
Dialogtext aus Alain Bergalas »Le cinéma, une histoire de plans«

Gesprochen von Ariane Ascaride und Jean-Pierre Daroussin

Ariane Ascaride Die Brüder Lumière nannten das »komische Ansichten«. Das waren Mini-Fiktionen, richtige kleine Inszenierungen.

Jean-Pierre Darroussin Mit dem Unterschied, dass sie aufgrund der Einschränkungen des frühen Kinos – nur eine einzige feste Einstellung und Filmrollen mit weniger als einer Minute Laufzeit – präzise und schnell arbeiten mussten.

Ariane Ascaride 50 Sekunden sind wirklich kurz, wenn man eine Geschichte erzählen will, selbst für einen Gag.

Jean-Pierre Darroussin Das hier ist mehr als ein Gag. Das ist wirklich eine kleine Filmszene, mit Auftritten und Abgängen, mit mehreren Ereignissen, die sich auf verschiedenen Ebenen des Raumes und im Bildhintergrund abspielen. Das ist schon eine sehr elaborierte Kinoeinstellung.

Ariane Ascaride Stimmt: Wenn es diese Straße rechts nicht gäbe, würde das wohl eher an eine Nummer auf einer Theaterbühne erinnern.

Jean-Pierre Darroussin Genau darin liegt der Geniestreich. Es ist eine Artikulation von zwei Räumen: dem des Theaters und dem des Kinos.

Ariane Ascaride Der Krüppel agiert tatsächlich wie auf einer eigenen Bühne vor dem Zuschauer; mit dem Bordstein, der als die Rampe fungiert.

Lumière »Le faux cul-de-jatte« (F 1896)

Jean-Pierre Darroussin ... und rechts gibt es wirklich einen reinen Kinoraum mit der der Straße als Fluchtlinie, die eine weite Perspektive eröffnet.

Ariane Ascaride Das ist unglaublich klar, von der ersten bis zur letzten Einstellung, sehr rein, sehr geometrisch.

Jean-Pierre Darroussin Man muss hinzufügen, dass das Licht diese Klarheit der Linien akzentuiert. Es ist hart, sehr grell und gibt dem Bild seinen starken Kontrast. Sehr pur. Hast du die Schatten gesehen? Sehr scharf gezeichnet, sehr markant.

Lumière »Le faux cul-de-jatte« (F 1896)

Ariane Ascaride Sie müssen die Szene mitten am Tag gedreht haben, an einem sehr schönen Tag, als die Sonne fast im Zenith stand.

Jean-Pierre Darroussin Damals sollten die Leute mit solchen »komischen Ansichten« hauptsächlich zum Lachen gebracht werden. Was mich verblüfft ist, dass daraus heute ein Dokumentarfilm über das ausgehende 19. Jahrhunderts geworden ist. Schon der Krüppel, der sich am Boden auf seinem Karren fortbewegt und sich mit den Bügeleisen abstößt.

Ariane Ascaride Und die Kostüme? Der Umhang des Polizisten, die Hüte... Für die Leute damals war das ganz selbstverständlich, aber uns erzählt das etwas ganz anderes.

Jean-Pierre Darroussin Stimmt: 100 Jahre später ist die Komik des Plot vollständig in den Hintergrund getreten. Uns fesselt nicht mehr die Geschichte, sondern Schönheit des Bildes. Was nur dazu diente, sich zu amüsieren, ist nun ein Dokument, ein kleines Kunstwerk.

Ariane Ascaride Glaubst du, dass ihnen die Schönheit der Einstellung damals nicht aufgefallen ist?

Jean-Pierre Darroussin Ich glaube, das Drebuch, wenn man das so nennen kann, stand im Vordergrund. Das beweist, dass das Kino wie die anderen Künste ist: Ein und derselbe Gegenstand wird von Generation zu Generation zu etwas anderem. Das ist eine Idee von Malraux. Sie trifft auch auf das Kino zu. Hier hat man den Beweis. Wir sehen etwas ganz anderes darin als die Menschen, für die der Film seinerzeit gedreht wurde. Und was großartig ist, dass diese Einstellung immer noch standhält. Auch auf diese umwegige Weise.

Ariane Ascaride Am Anfang haben wir einen schönen Zweier-Rhythmus: Der Schauspieler vorn auf dem Bürgersteig, der sich dem Zuschauer nähert, und rechts den Passanten in der Fluchtlinie, der wie ein Echo auf ihn reagiert. Und dann, hopp, wird ein Dreier-Rhythmus daraus. Mit dem Polizisten, der seinen Auftritt hat und perfekt in die von den anderen vorgezeichnete Fluchtlinie eintritt.

Jean-Pierre Darroussin Und dann wird der Rhythmus noch vielfältiger, mit Personen, die die Szene von der Seite her kreuzen. Das ist wie ein Musikstück, das mit zwei Fingern beginnt und dann allmählich vom Orchester begleitet wird.

Ariane Ascaride Weißt du, was mich beeindruckt ist, dass sie gleich zu Beginn des Kinos die ganze Bedeutung der Auf- und Abgänge in einer Szene erkannt haben. Das ist deutlich, tadellos. Schau dir die Passanten an. Der erste kommt links ins Bild, geht direkt auf den Krüppel zu, dreht sich um 90° Grad und macht einen einwandfreien Abgang. Es dauert einen kleinen Moment und hopp, der zweite Darsteller kommt genau dort ins Bild, wo der andere die Szene verlassen hat und macht die Bewegung in umgekehrter Abfolge. Als wäre es auf Notenpapier vorgezeichnet.

Jean-Pierre Darroussin Bis dahin sind es gerade Linien und harte Winkel. Und plötzlich ist da diese einkreisende Bewegung. Wie ein Strudel um den Krüppel herum. Das ist wie ein Reigen, und wir sind von der geraden Linie zum Kreis übergegangen.

Ariane Ascaride Und dann tritt plötzlich der Hund ein und der Bildraum leer sich. Der Polizist nähert sich dem Krüppel. Man merkt, dass jetzt das Drehbuch einsetzen wird.

Jean-Pierre Darroussin Dieser Hund ist fantastisch!

Ariane Ascaride Ich glaube trotzdem, dass sie viel Glück damit hatten.

Jean-Pierre Darroussin Er ist vollkommen in die Szene integriert. Ein Schauspieler hätte es nicht besser machen können. Er hat einen schönen Auftritt, genau im richtigen Winkel, genau in dem Moment als sich die Passanten zerstreuen. Er geht mit einer wunderbaren Gleichgültigkeit an dem Polizisten vorbei, so als ob dieser gar nicht existieren würde.

Lumière »Le faux cul-de-jatte« (F 1896)

Ariane Ascaride Fast ein bisschen anmaßend. Schau mal, er hebt sein Bein genau in dem Moment als der Polizist die Hand auf die Schulter des Krüppels legt. Das ist unglaublich. Diese Synchronität der Ereignisse.

Jean-Pierre Darroussin Hast du gesehen, anschließend hält er ganz ruhig an, genau in der Diagonalen der beiden anderen.

Ariane Ascaride Man könnte sagen, er beobachtet die Szene.

Jean-Pierre Darroussin Er sieht vor uns, dass eine dritte Person auftreten wird, er dreht den Kopf wie ein Schauspieler, der die Aufmerksamkeit auf sich lenken will.

Ariane Ascaride Was hat dieser Typ dort im Drehbuch zu suchen?

Jean-Pierre Darroussin Ich glaube das ist der Kompagnon des Krüppels, er beobachtet die Szene und rennt dann gemeinsam mit ihm weg.

Lumière »Le faux cul-de-jatte« (F 1896)

Ariane Ascaride Könnte auch ein Passant sein, der weggeschickt wurde und nun seinen Weg nach Hause fortsetzen will.

Jean-Pierre Darroussin Der Hund nimmt auch an der abschließenden Verfolgungsjagd teil.

Ariane Ascaride Glaubst du das war ein dressierter Hund?

Jean-Pierre Darroussin Nein, ein Hund könnte kaum lernen, all diese Dinge in einer einzigen Einstellung zu machen, das ist unmöglich. Kein Tierdompteur kann das erreichen. Ich glaube eher, dass es der Hund eines Darstellers war und sie haben es dem Zufall überlassen.

Ariane Ascaride Wenn sie dem Zufall überlassen haben, hatten sie aber verdammtes Glück.

Jean-Pierre Darroussin Das ist manchmal so beim Kino. Man muss auch auf das Glück zählen. Hast du gesehen? Lass mich noch mal zurückgehen. Ah voilà! Siehst du dort ohne den Hund gäbe es nicht diesen perfekten Rhythmus. Eine kauernde Form, eine stehende, eine kauernde, eine stehende. Das grenzt an ein ästhetisches Wunder. Der Hund nimmt die einzige Pose um die Komposition zu vollenden und ist vollkommener Teil des Rhythmus.

Ariane Ascaride Das ist wundervoll.

Filmografie

Le cinéma, une histoire de plans